Enders Spiel
als er den Spiegel anschaute, konnte er sich erinnern, ihn zerbrochen zu haben; er hatte ihn von der Wand gerissen, und Schlangen waren aus dem verborgenen Versteck gesprungen, hatten ihn angegriffen, ihn gebissen, wo immer die giftigen Zähne einen guten Angriffspunkt finden konnten.
Wie gut kennen sie mich?, fragte sich Ender. Gut genug, um zu wissen, wie oft ich an den Tod gedacht habe, um zu wissen, dass ich keine Angst vor ihm habe? Gut genug, um zu wissen, dass es mich nicht davon abhalten würde, diesen Spiegel von der Wand zu nehmen, selbst wenn ich den Tod fürchtete.
Er trat vor den Spiegel, hob ihn und nahm ihn ab. Nichts sprang aus dem Raum dahinter. Stattdessen lag dort in einer Vertiefung ein weiÃer Ball aus Seide, aus dem hier und da ein paar Fasern ragten. Ein Ei? Nein. Die Puppe einer Krabblerkönigin, bereits befruchtet von den Larvenmännchen, bereit, aus ihrem eigenen Körper hunderttausend Krabbler schlüpfen zu lassen, darunter ein paar Königinnen und Männchen. Ender konnte sehen, wie die schneckenartigen Männchen sich an die Wände eines dunklen Tunnels klammerten und die groÃen Erwachsenen die minderjährige Königin zum Paarungsraum trugen; jedes Männchen begattete der Reihe nach die Larvenkönigin und starb, während es auf den Tunnelboden fiel und zusammenschrumpfte. Dann wurde die neue Königin vor die alte gelegt, ein prachtvolles, in weiche und schimmernde Flügel gekleidetes Geschöpf, das schon lange die Fähigkeit zu fliegen verloren hatte, aber immer noch die Macht der Erhabenheit verkörperte. Die alte Königin küsste sie mit dem sanften Gift von ihren Lippen in den Schlaf, wickelte sie dann in Fäden aus ihrem Bauch und befahl ihr, wie sie zu werden, eine neue Stadt zu werden, eine neue Welt, viele Königinnen und viele Welten zu gebären â¦
Woher weià ich das?, dachte Ender. Wie kann ich diese Dinge sehen, als wären es Erinnerungen in meinem eigenen Geist?
Wie zur Antwort sah er die erste seiner Schlachten mit den Krabblerflotten. Er hatte sie vormals auf dem Simulator gesehen; jetzt sah er sie so, wie die Schwarmkönigin sie sah, durch viele verschiedene Augen. Die Krabbler formierten ihre Kugel aus Schiffen, und dann kamen die furchtbaren Jäger aus der Dunkelheit, und der Kleine Doktor vernichtete sie in einer Lohe aus Licht. Hierauf spürte er, was die Schwarmkönigin spürte, als sie durch die Augen ihrer Arbeiterinnen zusah, wie der Tod zu schnell über sie hereinbrach, um ihm zu entgehen, aber nicht schnell genug, um vorausgeahnt zu werden. Doch es war keine Erinnerung an Schmerz oder Furcht. Was die Schwarmkönigin verspürte, war Traurigkeit, ein Gefühl der Resignation. Sie hatte nicht diese Worte gedacht, als sie die Menschen kommen sah, um zu töten, aber Ender verstand sie: Sie haben uns nicht vergeben, dachte sie. Wir werden gewiss sterben.
»Wie könnt ihr wieder leben?«, fragte er.
Die Königin in ihrem seidigen Kokon hatte keine Worte zurückzugeben; aber als er die Augen schloss und sich zu erinnern suchte, kamen anstelle der Erinnerungen neue Bilder. Den Kokon an einen kühlen Ort legen, einen dunklen Ort, aber mit Wasser, sodass er nicht austrocknete; nein, nicht bloà Wasser, sondern Wasser vermischt mit dem Saft eines bestimmten Baumes und lauwarm gehalten, damit bestimmte Reaktionen im Inneren des Kokons ablaufen konnten. Dann Zeit. Tage und Wochen, damit die Puppe sich verändern konnte. Und dann, als der Kokon eine staubig braune Farbe angenommen hatte, sah Ender sich selbst, wie er den Kokon aufschlitzte und der kleinen und zerbrechlichen Königin beim Ausschlüpfen half. Er sah sich, wie er sie beim Vorderglied nahm und ihr half, von ihrem Geburtswasser zu einem Nistplatz zu gehen, der mit getrockneten Blättern ausgelegt war. Dann lebe ich, tauchte der Gedanke in seinem Geist auf. Dann bin ich wach. Dann bringe ich meine zehntausend Kinder zur Welt.
»Nein«, sagte Ender. »Ich kann nicht.«
Pein.
»Deine Kinder sind jetzt die Ungeheuer unserer Albträume. Wenn ich dich leben lieÃe, würde ich euch nur wieder umbringen.«
Ein Dutzend Bilder von menschlichen Wesen, die von Krabblern getötet wurden, blitzten durch seinen Geist, aber mit den Bildern kam ein so machtvoller Kummer, dass er um ihretwillen Tränen vergoss.
»Wenn du sie so fühlen lassen könntest, wie du mich fühlen lässt, dann
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