Endithors Tochter
Amulett. Irgendwie sah es wie ein reptilhaftes Ungeheuer aus, das zum Symbol der Unendlichkeit oder des Absoluten verdreht war. Während Sonja es betrachtete, regte sich etwas in ihr: eine verschwommene Erinnerung…
In Areels Hand hatte es geglüht!
Hatte das an der Zauberkraft der Endithor-Tochter gelegen oder am Talisman?
Sonja streckte sich aus, behielt das Amulett jedoch in der Hand. Jetzt hatte sie eine Trumpfkarte oder vielmehr einen Einsatz für dieses undurchschaubare Spiel, in das die Tochter eines Edelmanns verwickelt war, der Feind eines Edlen und eines anderen Edlen Leibwächter. Und Zauberkräfte! Und Mitra wusste, was sonst noch.
Sonja betrachtete das Amulett erneut. Nur Metall, Steine, Knochensplitter – mit einer seltsamen Ausstrahlung, die auch auf hohes Alter hinwies. Ja, irgendwie wusste Sonja, dass es alt, unvorstellbar alt war.
Und Areel würde zurückkommen, um es sich zu holen. Irgendwann.
Die Frage war nur: Ging die Macht in ihm von Areel oder von dem Talisman selbst aus?
Lera erwachte auf einem Diwan im Gemach ihrer Herrin, verwirrt und benommen – aber sie lebte!
Keuchend und schaudernd gewann sie ihr Bewusstsein ganz zurück. Sie hob die Hände an die Kehle, spürte jedoch weder Wunde noch Blut.
»Was im Namen aller Höllen ging hier vor?« fragte Areel scharf.
Lera wandte sich ihrer Gebieterin zu, die in der Mitte des verwüsteten Gemachs stand. Sie sah umgekippte Regale, sechs grässliche Leichen, zerbrochene Lampen, zerschmetterten Zierrat, das offene Fenster …
Das Fenster!
Aber jetzt befand sich dort kein Schatten, nur das erste Grau des nahenden Morgens fiel herein.
Lera zitterte, schluchzte heftig, kauerte sich auf dem Diwan zusammen und wandte das Gesicht von Areel ab. »Es hat mich nicht erwischt!« wimmerte sie in die Kissen. »O Mitra! O Hotath! Ihr Götter, es hat mich nicht erwischt!«
Areel kam zu ihr. »Da, trink das!«
Tränenüberströmt blickte Lera zu ihr hoch.
»Wein. Trink ihn, dann erzähl mir, was geschehen ist.«
Lera nippte vom Wein, aber er schmeckte bitter. Sie lehnte ihn ab, und Areel stellte den Kelch auf einen Tisch.
»So, Lera, jetzt sprich!« Ihre Stimme klang freundlicher. »Was ist hier passiert? Wie sind meine Diener gestorben? Und weshalb hattest du einige meiner magischen Talismane an dich gedrückt, als ich dich bewusstlos fand?«
»Il-uorku, Gebieterin!«
»Was?«
Trotz ihrer Furcht fand Lera ihren klaren Verstand zurück. »Ilorku – ich hörte Geräusche, Herrin. Ich eilte hierher – und es … es kam durch das Fenster. Ihr Götter! Es war grauenvoll! Die Diener konnten es nicht aufhalten. Ich fiel gegen die Regale – ergriff die Amulette dort …«
»Das war es vielleicht, was dich gerettet hat«, sagte Areel nachdenklich. »Sie haben die Kraft, bestimmte Formen des Bösen abzuwehren. Wenn das Wesen, das hier war, tatsächlich ein Ilorku gewe …«
»Es war Kus, Herrin!«
»Kus!«
»O Mitra – Mitra …!« Lera blickte zu Areel hoch. Ihre zitternden Finger klammerten sich an ihr Gewand, als könnte sie ihr Schutz bieten.
»Es war Kus! Kus! Ich hörte ein Krachen – kam herein Tirs und – und die anderen versuchten gegen ihn zu kämpfen – aber er – er …!«
Schluchzen schüttelte sie. Sie ließ Areels Gewand los und vergrub ihr Gesicht in den Kissen.
»Ö ihr Götter, ihr Götter! Es war schrecklich! Es war ein Traum – ein Alptraum! Es kann nicht wirklich geschehen sein. Ilorku …«
»Ruhig, Lera, ruhig.« Areel strich sanft über das blonde Haar des Mädchens und schaute sich mit kalten Augen im Gemach um.
»Du bist sicher, dass es Sendes war?« fragte Sonja Chost. Vor zwei Stunden schon hatte Sonja die gleiche Frage gestellt, als Chost Steinchen an ihr Fenster geworfen und sie die Läden geöffnet hatte, um ihn hereinklettern zu lassen. Was machte er so spät in der Nacht hier? Wo war er gewesen? Hatte er Areel gesehen?
Sonja hatte ihm Käse und Wein vorgesetzt – alles, was sie hatte – und zwischen den Schlucken hatte. Chost ihr alles erzählt: Wie er in der Nähe der Weinhäuser in der Straße der Weinhändler am späten Abend gestanden und plötzlich Sendes gesehen hatte, als er sich in seiner Rüstung durch die Stadt stahl. Er war ihm gefolgt, um sich zu vergewissern, dass es auch wirklich der Corinthier war, und hatte ihn die Stadt durch das Nordwesttor verlassen sehen. Er hatte sich dagegen entschieden, ihm zu folgen, weil die Gefahr zu groß war, dass er entdeckt würde. Schon bald
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