Endithors Tochter
Beunruhigt blickte Sendes die Straße hinauf und hinunter. Sie war nicht zu sehen. Einen Augenblick befürchtete er das Schlimmste, aber es war möglich – und war das Wahrscheinlichste –, dass Sonja heimgegangen war.
Sendes ging um das Haus herum, wo die Sklaven die Sänften polierten und dabei ihren eigenen Wein tranken, Witze machten und sich angeregt unterhielten. Er schnippte mit. den Fingern, und vier Lakaien eilten herbei. »Besorgt mir eine Sänfte!« befahl er.
Kurz darauf wurde er bereits durch die Straße getragen, in die Richtung, aus der er und Sonja gekommen waren. Eine lange Weile hielt er vergebens nach ihr Ausschau, bis er endlich eine hochgewachsene Frau in silbriger Kettenrüstung aus einer Schenke treten sah. Im Schein der Öllampen schimmerte ihr langes Haar wie rote Flammen.
»Sonja!« rief er.
Sonja schaute über die Schulter.
Sendes befahl den Trägern anzuhalten. Sonja ging weiter.
»Sonja! Bleib doch stehen!« Sendes sprang aus der Sänfte und rannte zu dem Mädchen. Sie drehte sich um und schaute ihn aus schmalen Augen an.
»Versäumst du nicht die Festlichkeit?«
»Sonja – es ist ein weiter Weg zu Fuß!«
»Ich gehe gern zu Fuß!«
»Komm, steig ein. Ich bringe dich zu deiner Unterkunft!«
»Der Spaziergang wird mir gut tun!«
»Es ist gefährlich, zu dieser nächtlichen Stunde!«
»Du weißt sehr wohl, dass ich auf mich selbst aufpassen kann!« Sie blickte ihn durchdringend an, scharrte mit einem Fuß über das Pflaster. Ihre Augen verrieten Ärger.
»Ah, komm schon!« beharrte Sendes. »Nalor fand es im nachhinein sogar belustigend. Er freute sich, dass du Kus getrotzt hast.«
»Von wegen!«
»Vergiss das Ganze. In der Sänfte ist eine halbvolle Flasche Wein. Lass mich dich zurückbringen.«
Sonja senkte den Kopf, dann warf sie ihn flatternden Haares zurück und lachte auf eigenartige Weise. »Erlik und Tarim! Na gut, na gut!«
Sie gingen zur Sänfte zurück und stiegen ein. Die Träger hoben sie hoch und liefen los. Eine kurze Weile schwiegen sowohl Sonja als auch Sendes. Dann hob er die Weinflasche und fragte: »Möchtest du?«
Sonja schüttelte den Kopf.
»Du solltest dich beruhigen«, mahnte Sendes. »Du kannst diesem Ärger nicht ewig nachhängen.«
»Dir seid Toren, ist dir das klar? Verdammte Toren!«
»Was?«
»Erkennt ihr denn nicht, was Kus ist?« fragte Sonja heftig und blickte ihn an. »Spürst du es denn nicht?«
Sendes blinzelte verblüfft. »Ich fürchte nein. Ich dachte, er sei ein Gaukler.«
»Ein Gaukler! Ihr Leute müsst blind sein durch all die Jahre, die ihr in Reichtum und Luxus gelebt habt! Dieser Mann ist eine Kreatur der Finsternis! Er ist ein Hexer. Das waren keine Jahrmarktzauber! Mir drehte sich der Magen um, als ich seine Augen sah!«
»Du verstehst wohl was von Zauberern?« fragte Sendes, ohne seine Frage ernst zu nehmen.
Sonja blickte ihn finster an, dann griff sie nach der Weinflasche und nahm einen tiefen Schluck.
»So ist’s richtig!« lobte Sendes. »Das Ganze ist bereits vergessen. Weißt du, ich hatte gedacht, Nalor würde mich hinauswerfen, aber das tat er nicht. Du hast alle überrascht, das war’s!«
Sonja gab ihm die Flasche zurück.
»Ich wette, du bist voll Überraschungen«, fuhr Sendes fort. »Oder täusche ich mich?«
Sonja wurde sein Ton bewusst.
Der Corinthier stellte die Flasche zur Seite, gähnte leicht und fing an, eine simple Weise zu pfeifen, und schon spürte Sonja, wie seine Finger sanft über ihren Schenkel strichen.
»Lass das, Sendes«, sagte sie ruhig.
Er achtete nicht darauf und drückte nun die Hand auf ihr Bein.
»Lass das, Sendes, ich meine es ernst!«
»Aber du wirst doch …«
Sie wandte sich ihm zu und blickte ihn fest an. »Lass es sein!«
Sendes war so verblüfft, dass er vergaß, seine Hand zurückzuziehen. Sonja tat es für ihn. Sie hob sie hoch und ließ sie auf seinen Schoß fallen.
»Sonja …?«
»Dort ist meine Herberge!«
Ein Rascheln war zu hören, als Sendes sich auf den Kissen brummelnd umdrehte. Sonja lächelte freudlos.
»Ich kann dir nur raten, nicht mehr auf solche Gedanken zu kommen«, sagte sie ruhig.
»Es gibt ein Sprichwort«, sagte Sendes nun barsch. »Eine Frau, die nicht will, ist eine, die nicht kann.«
»Wie lustig!« höhnte sie, und Kälte stahl sich in ihre Stimme. »Ich kenne ein hyrkanisches Sprichwort: Ein Mann, dem der Wein in den Kopf steigt, kann Frauen nicht halten!«
Sendes beugte sich aus dem Fenster. »Bleibt hier stehen!« schrie er
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