Endless: Roman (German Edition)
»Nein.«
»Meena!« Luciens Stimme knallte wie ein Peitschenhieb. »Komm auf der Stelle zu mir.«
Meena stand da wie erstarrt. Was glaubte Bruder Henrique denn gewonnen zu haben? Und was war mit Lucien geschehen? Er war genau das Gegenteil von dem Mann, in den sie sich einmal verliebt hatte. Jetzt fühlte er sich zur Dunkelheit hingezogen statt zum Licht und lebte unter den Straßen in Gängen und Höhlen, die ein vergessener Wasserlauf gegraben hatte.
Und plötzlich fiel ihr ein, was sie am Mannette gestört hatte … während ihrer Recherchen hatte sie darüber gelesen.
Als Anfang des siebzehnten Jahrhunderts holländische Siedler in Manhattan lebten, hörten sie die Einheimischen über einen Bach reden, den die Lenape Mannette nannten. Übersetzt bedeutete dies »Teufelswasser«.
Abraham hatte ihr erzählt, dass es Orte gab, zu denen böse Geschöpfe sich hingezogen fühlten, weil sie als direkte Verbindungen zum Teufel galten.
Meena wandte sich zu Lucien. Tränen strömten ihr mit dem Regen übers Gesicht.
»Hast du das die ganze Zeit über am Minetta-Bach gemacht, Lucien?«, fragte sie mit erstickter Stimme. »Hast du die Energie, die du brauchtest, von deinem Herrn genommen, um mir das anzutun? Mir und meinen Freunden?«
Als sie den wütenden Ausdruck in seinem Gesicht sah, wusste sie, dass sie recht hatte. Ihre verzweifelte Hoffnung, dass es doch anders gewesen sein könnte, war mit einem Schlag zunichte.
Wie der Blitz war er bei ihr und packte sie so grob am Arm, dass sich seine Finger tief in ihre Haut bohrten. Ihm war es ja auch gleichgültig, dass eine Armbrust auf ihren Kopf gerichtet war, warum sollte er sich dann Gedanken darüber machen, ob er ihr wehtat?
»Meena«, sagte er mit harter Stimme, »wir gehen. Es ist vorbei.«
Sie wusste genau, was er meinte. Nicht nur diese Diskussion war vorbei, sondern auch ihre Bemühungen, ihn auf die Seite der Menschheit zurückzubringen. Der Dämon in ihm hatte gewonnen. Lucien hatte sich von ihm in Besitz nehmen lassen, weil er ihn am Wasser des Mannette genährt und gehegt hatte. Nun kam sie nicht mehr an ihn heran, weil Konzepte wie gut und böse – oder Leben und Tod – ihm nichts bedeuteten. Sie waren ihm gleichgültig, solange er nur bekam, was er wollte.
Voller Angst schaute sie zu Alaric, der anscheinend so geschlagen und erschöpft war, dass er aufgegeben hatte.
Aber in dem Augenblick, als Lucien sie von Bruder Henrique wegzog, hob Alaric den Kopf. Ihre Blicke trafen sich, und auf einmal stand ihr ein Bild mit solcher Klarheit vor Augen, als ob Alaric es dorthin geschickt hätte.
»Was ist mit dem Buch?«, stieß sie hervor.
Bruder Henrique hatte die Armbrust bereits gesenkt. Jetzt zog er sie plötzlich wieder hoch.
»Was für ein Buch?«, fragte der Priester nervös.
»Das Buch«, sagte Meena. »Luciens Buch, das seine Mutter ihm hinterlassen hat.« Sie sah Lucien an. »Wolltest du es nicht zurückhaben?«
Luciens Gesichtsausdruck veränderte sich. Vorher hatte
er nur das eine Ziel verfolgt, Meena zurückzubekommen. Nun verfolgte er einen neuen Gedanken.
Über ihren Köpfen grollte der Donner. Einige der Menschen, die im Hof standen, versuchten zu gehen, aber die Lamir versperrten ihnen den Weg.
»Natürlich.« Bruder Henrique lächelte Lucien kläglich an. »Es tut mir so leid, Mylord. Das war ein weiterer Plan, um Euch zu fangen. Aber ich …«
»Haben Sie mir nicht gesagt, dass das Buch auf gar keinen Fall Lucien in die Hände fallen dürfte?«, fragte Meena unschuldig. »Weil er dadurch allmächtig würde?«
Bruder Henrique riss die Augen auf. »Ja, das stimmt«, erwiderte er. »Aber ich habe das natürlich nur gesagt, um überzeugend zu klingen in meiner Rolle als …«
»Wo ist das Buch?«, fuhr Lucien ihn an. Die Anspannung in seiner Stimme war nicht das einzige Signal für seine Ungeduld. Die Blitze und auch der Wind hatten zugenommen.
»Das weiß nur Alaric Wulf«, sagte Bruder Henrique rasch. »Und er will es nicht verraten. Ich glaube, er hat es vernichtet.«
Meena spürte, wie der Boden unter ihren Füßen bebte, und blickte sich verwirrt um, weil sie keine Explosion gehört hatte. Aber dann merkte sie, dass nicht der Kessel ein weiteres Mal explodiert war. Es war der Mannette. Lucien wurde immer wütender, und sie spürte seinen Zorn unter ihren Füßen. Wahrscheinlich war das Beben kilometerweit zu spüren und wurde von Geologen irrtümlich als leichtes Erdbeben gedeutet. Und dabei war es das Grollen des
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