Endless: Roman (German Edition)
assoziierte als Meena. Mit einem Ruck hob er den Kopf und blickte Bruder Henrique an.
»Das warst du«, sagte Lucien. Seine Augen leuchteten tiefrot.
»Was?« Bruder Henrique riss die Augen auf. »Nein, nein, Mylord, ich weiß nicht, was Ihr …«
»Das bist du.« Lucien hielt das Buch hoch, und als Meena jetzt die Zeichnung nicht mehr nur so verschwommen wie im Traum sah, erkannte sie, dass er recht hatte. Die Gestalt in der Illustration war Bruder Henrique. Die Ähnlichkeit war unverkennbar, das lockige, dunkle Haar, die dunklen Augen und das starke, ausgeprägte Kinn. Selbst das fließende Priestergewand war das Gleiche.
Der einzige Unterschied war die Tonsur, die Bruder Henrique damals offensichtlich getragen hatte, ein geschorener Kreis mitten auf seinem Kopf.
»Ich erinnere mich«, sagte Lucien, dessen Stimme immer normaler klang. Langsam hörte er sich wieder so an wie der Mann, in den sie sich einmal verliebt hatte. »Ich erinnere mich jetzt an dich. Du warst der Priester auf Schloss Poenari. Pater Henric. Du hast alle Messen gehalten. Du hast mir meine erste Kommunion gegeben. Du hast mich getauft. Du hast mir aus diesem Buch Katechismus-Unterricht gegeben.«
Pater Henric schien klar zu werden, dass er ertappt worden
war … Deshalb beschloss er blitzschnell, eine andere Taktik anzuwenden.
»Ja«, sagte er unterwürfig. »Ja, Mylord, das stimmt. Ich fühle mich so geehrt, dass Ihr Euch erinnert. Ich dachte, es sei nicht der Rede wert, weil es schon so lange her ist und Ihr seitdem in der Welt so aufgestiegen seid, während ich …«
»Südamerika?« Lucien blickte wieder auf das Buch. »Was hast du die ganze Zeit über in Südamerika gemacht?«
»Oh«, erwiderte Pater Henric, »das Gleiche wie immer. Messen abgehalten. Erstkommunionen. Katechismus unterrichtet. Taufen …«
»Wie geht denn das?«, fragte Emil staunend. »Das Weihwasser allein …«
Pater Henric lächelte. »Wenn ein Priester auf Geheiß seines Dienstherrn die dunkle Seite beschwört«, erklärte er, »so wie ich es für Euren Vater, Mylord, nach dem Tod Eurer Mutter getan habe, geht er ein enormes Risiko ein. Und damals war es noch schwieriger als heute. Mir drohte die Exkommunizierung oder noch Schlimmeres. Es war nur richtig, dass ich belohnt wurde. Unsterblichkeit war das Mindeste, was ich verdiente, aber der dunkle Prinz beschloss, mich mit weit mehr auszustatten. Nachdem er mich gebissen und zu einem seiner Art gemacht hatte, stellte ich fest, dass ich nicht nur das Geschenk des immerwährenden Lebens besaß, sondern auch über eine Art innere Immunität gegen die Dinge verfügte, die die meisten Dämonen töten – Licht, Pflöcke, Kreuze …«
Um seine Behauptung zu untermauern, legte der Priester eine Hand auf Meenas Kette. Als er sie wieder hochhielt,
konnte jeder sehen, dass seine Handfläche unversehrt war.
»Seht Ihr?« Er zuckte mit den Schultern. »Das war das Geschenk Eures Vaters an mich, Sire, für den Gefallen, den ich ihm tat. Und für niemand anderen wäre ich dieses Risiko eingegangen. Euer Vater war ein äußerst bemerkenswerter Mann – er liebte Eure Mutter so sehr. Sie war so eine besondere Frau. Und als sie weg war, nun ja, da veränderte er sich. Er wurde …
»Wahnsinnig«, sagte Lucien knapp.
»Besorgt«, korrigierte Pater Henric ihn. »Um Euch und Euren Bruder, möge er in Frieden ruhen. Euer Vater wollte Euch allen das ewige Leben schenken. Der Tod Eurer Mutter war so schmerzlich für ihn, dass er den Gedanken daran, einen von Euch verlieren zu müssen, nicht ertragen konnte. Deshalb fragte er mich, ob ich einen Weg wüsste, wie ich Euch alle unsterblich machen könnte. Und so …« Der Priester zuckte mit den Schultern. »Da tat ich es eben. Und ich habe es gerne getan.«
Dieses Mal gab es kein Beben vom Mannette. Keinen Donner. Keinen Blitz. Lucien reagierte überhaupt nicht auf die Erklärung des Priesters.
Er öffnete die Hände, und das Buch seiner Mutter fiel zu Boden.
Es landete in einer Pfütze. Meena beobachtete, wie das schmutzige Wasser es überflutete.
Und auf einmal wusste sie es. Sie wusste es mit solcher Sicherheit und Klarheit, als sei Luciens Mutter wieder lebendig geworden und habe es ihr ins Ohr geflüstert. Sie wusste es nicht nur, sondern sie verstand es auch – nicht
nur, warum Lucien an den Mannette gegangen war, sondern auch, wie viel Entsetzen und Schmerzen er in den vergangenen fünf Jahrhunderten durchgemacht haben musste, während er zusah, wie sein
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