Endlich war wieder Weihnachten
und küßte sie, erst die Augen, dann die Stirn, danach die Halsbeuge und zuletzt den Mund. Langsam und behutsam, damit das Kleine nicht aufwachte, hob sie die rechte Hand und streichelte Heinz über das Haar und den Nacken.
»Du bist doch gekommen«, flüsterte sie. »Wie schön … wie schön … Heinz, du weinst ja. Es ist doch alles vorbei, er ist da, er sieht aus wie du … er ist so schön!«
Blankenburg drehte den Kopf zur Seite. Durch den Schleier der Tränen sah er seinen Sohn an, diese Winzigkeit von Mensch, dieses Wunder, das aus ihm und Martina entstanden war, und er schob seinen Kopf an den kleinen Kopf seines Kindes, küßte die rosa Öhrchen und das Stupsnäschen, sah, wie die geschlossenen Liderchen zuckten und die winzigen Lippen sich vorwölbten, als wollten sie den Kuß erwidern.
»Ich danke dir, Martina«, sagte er leise und legte seinen Kopf in ihren anderen Arm. »Es ist das schönste Kind auf dieser Welt. O Gott, welch ein Tag!«
Advent war es, und Advent heißt Ankunft … Ankunft für ein neues Leben, für eine große Liebe, für eine Zukunft zu dritt.
E IN UNBEQUEMER G AST
Er saß im IC-Zug von Köln nach München, lehnte sich in das Polster zurück und blickte nachdenklich auf die an ihm vorbeiziehende Landschaft. Er kam von Amsterdam, war in Köln umgestiegen und wollte nun kreuz und quer durch Deutschland fahren, so wie er bereits Amerika besichtigt hatte, Afrika und Südamerika, Rußland und Asien, und je mehr er gesehen hatte, um so stiller war er geworden. Mit Tausenden von Menschen hatte er gesprochen, mit forschenden Augen war er durch die Länder gegangen, hatte in Kathedralen und kleinen Dorfkirchen gesessen, hatte eine Menge Zeitungen gelesen, das Fernsehen in vielen Ländern betrachtet, sogar in Peepshows war er gewesen, in Porno-Bars und hatte bei den Dealern gestanden, die Heroin und Kokain verkauften. Parlamentsdebatten hatte er miterlebt, Demonstrationen und örtliche Kriege, saß in den Elendsvierteln südamerikanischer Städte in den Hütten aus Pappe und flachgeklopften Benzintonnen und hatte auf Cocktailempfängen der Reichen mit einem Champagnerglas in der Hand voll stummer Verwunderung den großen Bogen eines Menschenlebens in sich aufgenommen.
In Rom hatte er eine Papstmesse miterlebt und war geblendet und erschrocken von dem Prunk der Gewänder und dem theatralischen Aufzug, den man Gottesdienst nannte. Damals, hatte er gedacht, ritt ich in einem einfachen Gewand und auf einem Esel in Jerusalem ein, und sie schwenkten Palmwedel, was ich gar nicht wollte. Und überall sehe ich meine Mutter, aus Holz geschnitzt, in Stein gehauen oder mit Farben gemalt, eine schöne, glückliche Frau voll Güte und Verständnis irdischer Sorgen. Aber sie war eine arme Frau, besaß nur das, was sie auf dem Leib trug, und als sie ihr Kind auf einer Strohschütte gebar, umschwebten sie nicht singende Engelscharen, sondern der Wind pfiff durch die Bretterwände des verfallenen Stalles. Und als sie ihr Kind in Stoffetzen wickelte, hatte sie wie jede Mutter gedacht: Er soll es einmal besser haben als wir, der kleine Wurm, groß und stark soll er werden und ein guter Zimmermann wie sein Ziehvater, geachtet und geliebt von allen, die ihn kennen, ein Leben der Freude und Erfüllung.
Erfüllung … das war ein Kreuz, das war das Leiden dieser ganzen Welt in einem einzigen Körper, das war der Tod im Verzeihen aller Sünden. »Mein Gott, warum hast du mich verlassen?« habe ich damals geschrien, denn ich fühlte wie ein Mensch. Heute müßte ich schreien: »Mein Gott, was haben die Menschen aus mir gemacht?! Ich möchte die Tempel wieder säubern wie damals, aber ich kann es nicht. Die Menschen haben mich überrollt und singen dazu: Jesus, geh voran …«
Er schrak hoch, als in Koblenz ein Mann zustieg und den Platz ihm gegenüber belegte. Er war gut gekleidet, hatte als Gepäck nur eine Aktentasche bei sich, legte sie in die Gepäckablage und ließ sich dann auf das Polster fallen.
»Ein Scheißwetter, was?« sagte er leutselig und reckte sich. »Alles ist durcheinander.«
»Die Sonne scheint doch«, sagte der Weitgereiste. »Das ist doch schön. Die Sonne …«
»Schön nennen Sie das?« Der Mann schüttelte den Kopf. »Morgen ist Heiligabend, Weihnachten. Und was haben wir? Frühlingswetter. Alles grün! Früher, da wußte man: Weihnachten liegt Schnee. Da ist alles weiß. Da sieht man durchs Fenster und freut sich, daß man im Warmen sitzt.«
»Ich glaube, im Stall von Bethlehem
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