Endlich wieder leben
Drinks tranken, taten die Jugendlichen genau das, was die Älteren fürchteten. Mochte Amerika auch technologisch und zivilisatorisch überlegen sein, so galt es kulturell als unterlegen. Amerika war seelenlose Massenkultur, reine Konsumgesellschaft, der man in Deutschland das Etikett Warenfetischismus anheftete. Wenn Amerikaner hilfsbereit und freundlich waren, sahen deutsche Intellektuelle darin »verlogene Heiterkeit«.
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Rock ’n’ Roll, Coca-Cola und Kaugummi eroberten die Jugend nicht nur bis weit in bürgerliche Kreise im Westen, Anhänger der »amerikanischen Unkultur« existierten auch massenweise in der DDR – in seltener Einigkeit fanden sich Konserative und Linke in ihrer Ablehnung.
Bis in die 1960er Jahre, so stellt der Historiker Axel Schildt fest, »war es in den bundesdeutschen Zeitschriften für das Bildungsbürgertum und in einschlägigen Feuilletons selbstverständlich, das wirtschaftliche, politische und militärische Bündnis mit dem Westen und eine enge Partnerschaft mit den USA zu bejahen, aber gleichzeitig die ›Amerikanisierung‹ als Aushöhlung humanistischer Kultur zu stigmatisieren.« 157
Die Identifikation, die auf deutscher Seite dabei mit dem christlichen Abendland stattfand, vermittelte nicht nur das Gefühl der moralischen und ethischen Überlegenheit gegenüber dem kulturell unterlegenen Westen, sondern auch gegenüber dem bolschewistischen Osten. Dank der Parole »Freiheit statt Bolschewismus« gehörten nun auch jene wieder auf die Seite der Guten, die wenige Jahre zuvor noch selbst ein totalitäres System unterstützt hatten.
Zu den wenigen Konservativen, die ein gewisses Verständnis für die Jugendrebellion aufbrachten, gehörte erstaunlicherweise der Soziologe Helmut Schelsky. Es handele sich, schrieb er, um eine bemerkenswerte »ungeplante, aber in vitalen Bedürfnissen verwurzelte Ausbruchsreaktion der Jugendlichen gegen die manipulierte Befriedigung des modernen Lebens und gegen den unangreifbaren Konformitätsdruck der modernen Gesellschaft«. Nicht die Jugendlichen störten die Ordnung, so Schelsky, vielmehr störe die Ordnung die Jugendlichen. Er sah eine »sezessionistische« Jugendgeneration voraus, »gekennzeichnet durch eine Welle sinnloser Ausbruchsversuche
aus der in die Watte manipulierter Humanität, überzeugender Sicherheit und allgemeiner Wohlfahrt gewickelten modernen Welt«. 158 Zwar wollte er die Proteste nicht als Vorboten radikaler politischer oder sozialer Bewegungen deuten, tatsächlich aber prognostizierte Schelsky, was sich in den Achtundsechziger-Studentenunruhen schließlich Bahn brach.
Zum Beispiel Gudy Fichelscher
E s soll diesen Typ geben – die Jazzerbraut, die sich leidenschaftlich in einen Mann verliebt, der unkonventionell lebt und ganz und gar in seiner Musik aufgeht. Die ihn zu jedem Konzert begleitet und nach dem Konzert noch weiter mit ihm durch die Kneipen zieht. Die schließlich ihren bürgerlichen Job aufgibt, um das Boheme-Leben ganz und gar mit ihm zu teilen.
Ich jedenfalls war so eine Jazzerbraut und blieb es 34 Jahre lang.
Das erste Mal bin ich Anfang 1956 in die »Eierschale« gegangen. Da war ich gerade siebzehn. Das sei toll dort, hatte mir meine Freundin erzählt, die mehr Freiheiten genoss als ich. Dieses Studentenlokal am Breitenbachplatz war neben der »Badewanne« das bekannteste Jazzlokal in Berlin, ein Ort mit Kultstatus. Ich wusste, mein Vater würde mir den Besuch auf keinen Fall erlauben. Mit meinen Brüdern durfte ich zwar ins Kino, aber wenn der Film um 22 Uhr zu Ende war, hatte ich spätestens um 23 Uhr zu Hause zu sein. Allerdings übernachtete ich manchmal bei meiner Freundin – und die nächste Gelegenheit nutzten wir und zogen los. An jenem ersten Abend in der »Eierschale« habe ich Toby kennen gelernt, meinen späteren Mann.
Vor der Kasse stand eine Schlange. Nur wenn Gäste das Lokal verließen, wurden neue eingelassen. Hereingelassen wurde, wer sechzehn Jahre alt war, aber wer unter achtzehn war, musste den Ausweis an der Kasse abgeben und ihn wegen des Jugendschutzgesetzes bis 22 Uhr wieder abholen. Ich habe das Lokal tatsächlich pünktlich verlassen, denn es wäre mir unendlich peinlich gewesen, wenn um zehn
laut durch das Mikrofon verkündet worden wäre: »Hier liegt noch der Ausweis von Fräulein Gudrun Schulz! Bitte abholen!«
Die »Spree City Stompers« spielten ihren Dixieland im Keller. Fast verschlug es mir dort den Atem. Es war feucht und heiß. Die Tanzfläche vor der
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