Endlich wieder Weiberabend: Roman (German Edition)
senden versucht. Er hört nie auf.«
Helen jammert grundsätzlich nicht und würde das Thema niemals von sich aus zur Sprache bringen, aber seit Levis Geburt hat sie dieses seltsame, heulende Pfeifen in den Ohren. Gründliche Untersuchungen haben ergeben, dass es nicht von einem Hirntumor kommt. Es ist stressbedingt. Und es ist immerzu da. Außer während der zehn Tage, die sie mit ihren Schulfreundinnen in Indien verbracht hat, ohne Kinder und Mann. Auf dem Rückflug von Kalkutta nach Sydney fing es wieder an.
Als ich von Helens Tinnitus erfuhr, forschte ich ein bisschen nach und stellte fest, dass wir alle bis zu einem gewissem Grad Ohrgeräusche haben. Wenn wir ihnen Aufmerksamkeit schenken, werden sie lauter. Die einzige Möglichkeit, mit Tinnitus zu leben, besteht darin, nicht weiter darauf zu achten und ihn mit anderen nervtötenden Geräuschen zu übertönen. Man kann eine gewisse Gewöhnung erreichen, wie bei Schmerzen, indem man seine Definition von »normal« so weit ausdehnt, dass er hineinpasst. Das habe ich von anderen Leuten, die an chronischen Erkrankungen leiden, auch schon gehört.
»Würdest du das mal halten?« Helen reicht mir kurz ihr Glas, um T-Shirt und BH auszuziehen, und legt sich wieder hin.
Ihre Brüste gleiten über ihren Brustkorb wie zwei Spiegeleier in einer Pfanne. Sie sonnt sich, als wäre Hautkrebs eine Erfindung der Medien, das Hirngespinst irgendeines neurotischen Dermatologen. Sie sitzt nie im Schatten, trägt keinen Hut und benutzt auch keinen Sunblocker – zumindest nicht bei sich selbst. Ihre Kinder dagegen schmiert sie damit ein, bis sie aussehen wie panierte Fische.
»Ich hätte kein Problem damit, an Hautkrebs zu sterben«, sagte sie einmal zu mir. »Denn das würde bedeuten, dass ich einen Großteil meiner Lebenszeit damit verbracht habe, faul in der Sonne zu liegen.«
Nach Fionas Diagnose kommt mir diese Unbekümmertheit ziemlich verrückt vor.
Ich finde es abscheulich, dass jahrelange Aktivitäten im Freien die pralle Feuchtigkeit aus meiner Haut gesogen haben wie das Stillen aus meinen Brüsten. Ich brauche wirklich keine Sommersprossen an den Armen, die wie Ausschlag aussehen. Auf die ledrigen Hautstellen könnte ich ebenfalls gut verzichten. Manchmal habe ich den Eindruck, dass alles und jeder ein Stück von mir haben will, sogar das Wetter. Nach allem, was man so hört, ist die Ozonschicht ähnlich dünn wie superfeiner Blätterteig, und ich persönlich nehme diese Information sehr ernst, obwohl ich nicht einmal genau weiß, was die Ozonschicht ist. Aber offenbar brauchen wir sie. Ich will nicht an Hautkrebs sterben oder an sonst irgendwas, um ehrlich zu sein. Ebenso wenig möchte ich älter aussehen, als ich ohnehin schon bin.
Aber wenn Helen ihren blanken Busen in die Sonne hält, dann will ich das auch. Also stelle ich vorsichtig mein Glas ins Gras und ziehe mein T-Shirt aus.
Wir liegen eine Weile so da. Helen schiebt die Hand in ihr Höschen und kratzt sich. Ich recke den Fuß in die Höhe und untersuche einen eingewachsenen Zehennagel.
»Macht Spaß«, bemerke ich.
»Hör nur«, sagt sie.
»Was denn?«
»Stille.«
Ich lausche.
Kein Streit, kein Fernseher oder sonst irgendwelche Elektronik … nur der Frieden eines sonnigen Freitagnachmittags. Zwei Freundinnen, beinahe richtige Menschen, die sich kaum um die Wäsche oder den Abwasch kümmern.
»Wie geht es eigentlich Levi?«, frage ich vorsichtig. Die Frage ist durchaus heikel, denn eigentlich würde ich gern fragen: »Und, trägt Levi immer noch Kleidchen?« Aber ich gehe die Sache natürlich taktvoll an.
Wenn Helen einen wunden Punkt hat, dann diesen. Wir fanden es alle niedlich, als ihr blond gelockter Sohn sich sofort auf die Verkleidungskisten stürzte, wenn Helen mit ihm bei einer Freundin mit Töchtern zu Besuch war. Es war lustig, wie er in bunten Tüchern und Engelsflügeln herumtanzte – als er zwei oder drei Jahre alt war. Aber jetzt ist er sechs, und seine Vorliebe für Mädchenklamotten macht Helen ziemlich zu schaffen. Ist er schwul? Ist er ein Mädchen, gefangen im Körper eines Jungen? Wird er sich zum achtzehnten Geburtstag eine Geschlechtsumwandlung wünschen?
Eine eher ungewöhnliche elterliche Sorge. Wenn wir schwanger sind und für die Gesundheit unseres ungeborenen Babys beten, denken die meisten werdenden Mütter: zehn Finger, zehn Zehen, kein Hirnschaden. Niemand kommt darauf, um eindeutige Geschlechtsidentität zu beten. Anscheinend wäre Levi am liebsten in einem
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