Endlich
Telefon das Gästezimmer in seiner Wohnung an. Er begrüßte mich in Sandalen in der riesigen Wohnung im sechsten Stock, deren wichtigstes Mobiliar aus Büchertürmen zu bestehen schien. Er zeigte mir die Hausbar und mein Zimmer und entschuldigte sich: Er müsse rasch noch einen Artikel zu Ende schreiben, aber in einer halben Stunde sei er damit fertig. Es war das erste Mal, dass ich mit einer bei Autoren eher raren Fähigkeit Bekanntschaft machte: Hitchens war in der Lage, sowohl die Anschläge wie den Zeitaufwand für einen Artikel, den er in Arbeit hatte, exakt einzuhalten. Später, als wir über seinen britischen Freund, den Dichter James Fenton, sprachen, erklärte er mir das Geheimnis seiner eigenen Disziplin. James Fenton, berichtete Hitchens, würde jedes Gedicht so lange im Kopf vorbereiten, bis er es ohne jede Korrektur von Anfang bis zum Ende niederschreiben könne. Er, Hitchens, habe sich daran ein Beispiel genommen; beim ersten Satz, den er schreibe, wisse er, wie der Artikel enden werde.
Tatsächlich klopfte Christopher nach exakt einer halben Stunde an meine Zimmertür und lud mich in die Bar ein.
Ich hatte die Wahl zwischen Weißwein und Johnnie Walker Black Label – und entschied mich am hellen Nachmittag für das Getränk, das Christopher wählte. Bei unserem ersten Gespräch stellte sich heraus, dass er mich nicht nur durch den gemeinsamen Freund aus San Francisco kannte. Er hatte ein paar Artikel von mir in der New York Times gelesen, in denen ich mich unter anderem mit der Haltung Deutschlands im Bosnienkonflikt beschäftigte. Ebenso wie Christopher war ich während des Krieges in Sarajevo gewesen und zu dem Schluss gekommen, dass gegen den blindwütigen Beschuss der serbischen Milizen auf die waffenlose Zivilbevölkerung Sarajevos nur eine militärische Intervention des Westens helfen könne. Die deutsche Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg »Nie wieder Krieg«, so hatte ich argumentiert, sei unvollständig. Es hätte heißen müssen: nie wieder Aggression, nie wieder Rassismus, nie wieder Überfall. Folglich müsse ein zu allem entschlossener Aggressor mithilfe von Waffen aufgehalten werden, wenn er denn anders nicht zu stoppen war.
Hitchens und ich waren in Sarajevo zu denselben Schlussfolgerungen gelangt. Die ethnischen Vertreibungen und das Versagen Europas hatten uns genötigt, unsere vorher eher pazifistischen Überzeugungen zu überprüfen.
Es dauerte nicht lange, bis wir weitere Gemeinsamkeiten entdeckten. Beide hatten wir – er damals noch im Schüleralter – gegen den Vietnamkrieg demonstriert. Allerdings zeichnete sich eine unterschiedliche ideologische Herkunft ab, deren Bedeutung ich erst später verstand. Christopher hatte den Dissidenten Arthur Koestler vor Marx gelesen; ich hatte mich von Hegel und Marx allmählich zu Adorno und Marcuse vorgearbeitet und las Koestler erst, nachdem ich auf Alexander Solschenizyns Werk gestoßen war. Er verdankte seine erste Prägung als Linker einer britischen Trotzkisten- Gruppe; ich war in Westdeutschland – die kommunistische Partei war verboten und die regierenden Kommunisten in der DDR kamen als Vorbilder nicht in Frage – eher spontan zum Aktivisten geworden. Er war schon als Schüler ein glühender Internationalist gewesen; ich hatte in seinem Alter noch an keiner einzigen politischen Debatte teilgenommen. Entscheidend für unsere gegenseitige Sympathie war der Umstand, dass Sarajevo und das Versagen Europas zu einem, wie er es nannte, Damascus moment geworden war – zu einem Wendepunkt in unserem politischen Denken und Handeln.
Erst nach Jahren fand ich dank Christophers britischer Kultur des understatement – er hasste jede Angeberei – heraus, dass er nach einer kurzen Stotterphase bereits in frühen Jahren ein begnadeter Redner und Debattierer gewesen war, der zahllose Berühmtheiten dieser Disziplin das Fürchten gelehrt hatte. Die Kunst der öffentlichen Rede wurde und wird an deutschen Schulen und Universitäten kaum geübt – man muss nur Helmut Kohl und Angela Merkel mit Tony Blair und Bill Clinton vergleichen, um sich Beispiele für dieses anhaltende deutsche Defizit vor Augen und Ohren zu rufen.
Ein weiteres Talent von ihm lernte ich jedoch schon bei unserem ersten Umtrunk kennen. Auch nach mehreren Gläsern Whisky sprach er klar und fehlerlos und konnte nach Belieben lange Zitate seiner Lieblingsschriftsteller abrufen. Ich habe nie erlebt, dass er vergeblich nach einem Namen oder einem Zitat suchte – was immer der
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