Endlich
auf die Lymphknoten ausgedehnt hatte und dass eine dieser deformierten Schönheiten – an meinem rechten Schlüsselbein gelegen – groß genug war, dass man sie sehen und fühlen konnte. Es ist gar nicht gut, wenn der Krebs von außen »spürbar« ist. Besonders wenn man, wie in diesem Stadium, nicht weiß, wo die eigentliche Quelle liegt. Das Karzinom arbeitet listig von innen nach außen. Untersuchung und Behandlung müssen meist langsamer und tastender vorgehen, von draußen nach drinnen. Viele Nadeln senkten sich in meine Schlüsselbeingegend – Gewebe bringt’s, heißt der Slogan in der lokalen Tumoria-Sprache, und dann sagte man mir, die Ergebnisse der Biopsie könnten eine Woche lang auf sich warten lassen.
Es brauchte noch länger, um von den krebsverheerten Schuppenzellen, welche diese ersten Ergebnisse enthüllten, sich zurückzuarbeiten zur unangenehmen Wahrheit. Das Wort »metastasiert« war das erste, an dem mein Blick im Bericht hängen blieb, das erste, das mein Ohr aufnahm. Der Alien hatte einen Teil meiner Lunge sowie eine beträchtliche Partie meines Lymphknotens kolonisiert. Und seine ursprüngliche Operationsbasis befand sich (schon seit geraumer Zeit) in meiner Speiseröhre. Mein Vater war – sehr rasch – an Speiseröhrenkrebs gestorben. Da war er neunundsiebzig. Ich bin einundsechzig. Wenn das Leben in irgendeiner Weise ein Wettlauf ist, war ich nun sehr abrupt unter den Finalisten angekommen.
*
Die notorische Phasentheorie von Elisabeth Kübler-Ross, der zufolge man von der Verdrängung zur Wut, zum Feilschen um Bedingungen, zur Depression und dem schließlichen Glück der »Akzeptanz« voranschreitet, ist in meinem Falle irrelevant. In gewisser Weise war ich wohl seit längerer Zeit mit der Verdrängung beschäftigt und hatte bewusst die Kerze an beiden Enden brennen lassen (was oft ein wunderbares Licht ergibt). Aber aus genau diesem Grund liegt es mir fern, mir jetzt schockiert vor die Stirn zu schlagen oder zu lamentieren, wie unfair das alles ist: Ich habe den Sensenmann lange herausgefordert, mit seinem Werkzeug einen Hieb in meine Richtung zu tun, und jetzt bin ich einem Los verfallen, das so vorhersehbar und banal ist, dass es selbst mich langweilt. Zorn wäre aus demselben Grunde unangemessen. Stattdessen bedrückt mich ein nagendes Gefühl der Verschwendung. Es gab große Pläne für das nächste Jahrzehnt, und ich hatte eigentlich das Gefühl, ich hätte hart genug gearbeitet, um dieses Jahrzehnt auch zu verdienen. Werde ich wirklich nicht mehr sehen, wie meine Kinder heiraten? Wie das World Trade Center wiederersteht? Werde ich nicht die Nachrufe auf betagte Schufte wie Henry Kissinger und Joseph Ratzinger lesen (wenn schon nicht schreiben) dürfen? Aber ich durchschaue diese Denkweise: Das ist sentimentales Selbstmitleid. Natürlich tat mein Buch an eben dem Tag, als ich diese böseste aller Nachrichten erhielt, den Sprung auf die Bestsellerliste, und übrigens machte mich der letzte Flug, den ich als gesunder Mensch antrat (zu einem schönen großen Publikum bei der Buchmesse in Chicago), zum Millionenmeilen-Flieger bei United Airlines, der nun ein Leben lang auf Gratis-Upgrades hoffen durfte. Aber Ironie ist ja mein Geschäft. Ich kann hier nur keine entdecken: Wäre es weniger bitter, Krebs an dem Tag zu bekommen, da meine Memoiren als unverkäufliches Stroh ins moderne Antiquariat wanderten oder da man mich aus der Touristenklasse rauswarf und auf dem Asphalt der Landebahn stehen ließ? Auf die dumme Frage: »Warum ich?« gibt das Weltall sich kaum die Mühe, auch nur »Warum denn nicht?« zu antworten.
Das Stadium des Feilschens, immerhin. Vielleicht gibt es hier ein Schlupfloch. Der Kuhhandel in der Onkologie besteht darin, dass man sich für die Aussicht auf ein paar weitere nützliche Jahre bereiterklärt, sich der Chemotherapie zu unterziehen und später, wenn man bei der Glück gehabt hat, der Bestrahlung oder vielleicht sogar einem chirurgischen Eingriff. Das ist also die Wette: Sie bleiben noch ein bisschen hier, aber dafür brauchen wir das eine oder andere von Ihnen. Das mag Ihre Geschmacksknospen einschließen, Ihre Konzentration, Ihre Fähigkeit zur Verdauung und das Haar auf Ihrem Kopf. Das hört sich gewiss nach einem vernünftigen Geschäft an. Unglücklicherweise tritt hier eines der nettesten Klischees unserer Sprache auf den Plan. Sie haben’s schon oft gehört. Die Leute haben nicht Krebs – man hört von ihnen, dass sie gegen den Krebs kämpfen.
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