Endspiel - Genie und Wahnsinn im Leben der Schachlegende Bobby Fischer
Paul Nemenyi gelegentlich Schecks über 20 Dollar, eine damals nicht unerhebliche Summe. Die Schecks trafen etwa wöchentlich ein, konnten aber auch mal ausbleiben. Nemenyi und Regina hatten sich angefreundet, als sie in Denver an der University of Colorado studierte, später trafen sie sich in Chicago wieder. Möglicherweise war er Bobbys biologischer Vater, allerdings wurde die Vaterschaft nie getestet. Regina stritt nicht nur ab, dass Nemenyi Bobbys Vater sei, einmal ließ sie es auch zu den Unterlagen des Sozialamts nehmen, dass sie im Juni 1942 nach Mexiko gereist sei und dort ihren damaligen Mann getroffen habe. Bei dieser Zusammenkunft sei Bobby gezeugt worden. Ein entfernter Verwandter vermutete, Regina habe Hans Gerhardt in der Geburtsurkunde als Vater angegeben, damit Bobby nicht als vaterlos dastand. »Höchstwahrscheinlich war Paul Nemenyi der wahre Vater«, meinte der Verwandte.
In einem Versuch, Spielpartner für Bobby zu finden, wandte sich Regina an den Schachredakteur des Brooklyn Eagle . In dem Brief nannte sie ihren Sohn »mein kleines Schachwunder«. Der Redakteur, Herman Helms, ein großer alter Schachmeister, lud Regina ein, an einem bestimmten Donnerstagabend im Januar 1951 mit Bobby in die Bücherei an der Grand Army Plaza zu kommen. Dort würde der Junge gemeinsam mit mehreren Schachmeistern an einem Simultanspiel teilnehmen können.
In der Regel tritt bei einem Simultanspiel ein starker Spieler gegen eine ganze Reihe von Gegnern gleichzeitig an. Die Bretter sind in Form eines Quadrats oder Hufeisens angeordnet. Der Simultanspieler geht von Brett zu Brett. Wenn er ankommt, muss der andere Spieler (der »Simultangegner«) seinen Zug machen. Der Meister antwortet darauf sofort mit einem eigenen Zug und geht rasch zum nächsten Brett weiter.
Als Bobby im Schlepptau seiner Mutter die luftige Rotunde der öffentlichen Bibliothek Brooklyn an der Grand Army Plaza betrat, hielt er verblüfft inne. Die Wände des Raumes waren von Vitrinen gesäumt, in denen ungewöhnliche und alte Schachgarnituren ausgestellt waren. Privatsammler hatten sie der Bibliothek für dieses Ereignis zur Verfügung gestellt. Die Schaukästen enthielten auch eine Anzahl populärer Schachbücher und einige auf Deutsch gedruckte Inkunabeln. Man konnte eine Garnitur aus Porzellanfiguren bestaunen, die von Tenniels Illustrationen zu Alice im Wunderland inspiriert waren, außerdem zwei Garnituren aus Flüchtlingslagern, das eine handgeschnitzt und das andere aus Stroh geflochten, in denen jeweils über 500 Stunden Arbeit steckten. Ein Spiel aus Guatemala erinnerte an die präkolumbianische Baukunst in der neuen Welt. Die meisten Besucher fanden all das recht faszinierend, doch Bobby Fischer war nicht gekommen, um sich alte Schachfiguren anzusehen. »Die haben mich nicht allzu sehr interessiert«, erinnerte er sich später. Er wollte Schach spielen.
An jenem Abend wechselten verschiedene Schachmeister sich an den Brettern ab. Jeder spielte etwa eine Stunde und ließ sich dann ablösen. Bobby setzte sich und baute seine neue Garnitur mit ihren Holzfiguren auf. Sein erster Gegner war Max Pavey, ein 32-jähriger Radiologe, Meister von Schottland und dem Staat New York, der sich gerade in Bombenform befand. Pavey war der erste Schachmeister, gegen den Bobby je spielte. Vermutlich war diese Partie auch Bobbys erste gegen einen in der Theorie beschlagenen, erfahrenen Spieler. An jenem Abend befand Bobby sich in einer Lage, vergleichbar mit derjenigen eines Siebenjährigen, der ein paar Mal gegen Gleichaltrige Tennis gespielt hatte und nun gegen einen John McEnroe auf der Höhe seiner Kunst antrat.
Eine Traube von Besuchern scharte sich um das Brett und sah zu, wie der kleine Bobby gegen den selbstgewissen, Tweedjacke tragenden Max Pavey antrat. Der heilige Ernst, mit dem der Junge die Partie anging, lockte mehr und mehr Zuschauer an. Bobby kniete auf seinem Stuhl, um einen besseren Überblick über das Brett zu bekommen.
Bobby rief sich seine Erfahrungen in Erinnerung, die er beim Lösen von Rätseln gemacht hatte. Er durfte nicht zu schnell ziehen; er wusste, es gab eine Lösung, die nur gefunden werden musste. Und dafür brauchte er Zeit, Zeit und nochmals Zeit. Pavey, der hervorragend Blitzschach spielte – er war in dieser Disziplin gerade amerikanischer Meister geworden –, flitzte geradezu durch den Raum, warf nur einen kurzen Blick auf jedes Brett und machte dann seine Züge. So bald stand er wieder vor Bobbys Brett,
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