Endspiel - Genie und Wahnsinn im Leben der Schachlegende Bobby Fischer
Monat betrug. Regina, die keine Hemmungen kannte, um Hilfe für sich und die Kinder zu bitten, rekrutierte ein paar Nachbarn, mit denen sie die schlichten Besitztümer der Familie Karton um Karton die paar Straßenzüge zur neuen Wohnung hinübertrug. Hier, so hoffte sie, würde die Familie vielleicht ein bisschen länger bleiben können. Die Wohnung im dritten Stock war zwar klein, lag aber so günstig zur Schwesternschule, dass Regina Kinderbetreuung und Studium unter einen Hut bekommen konnte. Bobby und Joan hatten jeweils ein eigenes Zimmer, während Regina auf einer Liege im Wohnzimmer schlief. Diese Wohnung lag in Flatbush, einer besseren Gegend Brooklyns, in der vornehmlich jüdische Mittelklassefamilien lebten. Doch auch andere Minderheiten begannen, das Viertel für sich zu entdecken. Die Grünflächen des Prospect Parks ließen sich schnell zu Fuß erreichen, ebenso der botanische Garten und eine der besten Bibliotheken der Stadt an der Grand Army Plaza.
Aber Bobby war unzufrieden: Im Haus war nirgendwo Platz, wo ein Siebenjähriger sich austoben hätte können. Und auf der Straße ließ Regina ihn auch nur sehr widerwillig unbeaufsichtigt spielen. Anfangs spielte er gelegentlich mit einem Nachbarsjungen im Treppenhaus Fangen. Doch bald bekam der Hausmeister den Krach so satt, dass er jegliche laute körperliche Betätigung im Haus strikt verbot. Bobby liebte es, auf sein Bett zu steigen und von dort möglichst weit auf den Boden zu springen. Wieder und wieder verbesserte er seinen eigenen Rekord – bis die Mieter der darunterliegenden Wohnung sich beschwerten. Danach war auch damit Schluss. Als Bobby in späteren Jahren mit Freiübungen begann, schritt die Hausverwaltung selbst dagegen ein. Jahre danach konstatierte Bobby ironisch: »Wenn man mich fragt, wem ich mein [Interesse an] Schach zu verdanken habe, kann ich sagen, ›dem Vermieter‹.«
Grummeld ertrug Bobby, dass die fünf Jahre ältere Joan sich um ihn kümmerte, wenn seine Mutter lernte, arbeitete, an unterrichtsfreien Tagen als Stenografistin jobbte oder sich – in der knapp bemessenen Freizeit – politisch betätigte. Wenn sie mal keine Arbeit hatte, bekam sie Arbeitslosengeld in Höhe von 22 Dollar die Woche. Auch wenn Regina wenig Zeit für ihren Sohn hatte, sorgte sie doch dafür, dass der kleine Bobby immer etwas zu essen hatte und beaufsichtigt wurde.
Regina wusste, dass Bobby ein helles Köpfchen war, empfand ihn aber zunächst nicht als »Wunderkind«. Klar, manche Dinge durchschaute er schneller als sie selbst. Muster und Analogien erkannte er mit erstaunlicher Geschwindigkeit. So schloss er aus der Tatsache, dass eine Bank wegen eines Feiertags geschlossen war, dass eine andere Bank wahrscheinlich auch geschlossen sein würde.
In sozialen Dingen erwies Bobby sich als deutlich weniger begabt. Schon seit früher Kindheit folgte er seinem ganz eigenen Rhythmus und entwickelte sich völlig anders als die Nachbarskinder. Am auffälligsten war seine ungeheure Starrköpfigkeit. Wenn ihm etwas gegen den Strich ging – das Essen, das Zu-Bett-gehen-Müssen (er blieb gern lange auf), ein Verbot hinauszugehen –, schimpfte er wie ein Rohrspatz. Anfangs setzte Regina sich noch durch, doch schon im Alter von sechs Jahren ließ Bobby sich nichts mehr sagen. Er wollte tun, was ihm gefiel, und zwar wann, wo und wie es ihm passte.
»Als Bobby sieben war«, sagte Joan einmal in einem Interview, »konnte er über Konzepte wie Unendlichkeit reden und alle möglichen mathematischen Knobeleien lösen, wenn man ihn aber fragte, wie viel zwei mal zwei sei, kam er ins Schwimmen.« Das mag zwar übertrieben sein, doch eines steht fest: Bobby hasste es, sich Dinge einzuprägen, die ihn nicht interessierten, und Multiplikationstabellen gehörten in diese Kategorie. Die Fabel, Fischer habe die Zahlentheorie und die Komplexität von Primzahlen in allen Facetten verstanden, aber selbst einfache Multiplikationen nicht hinbekommen, ist ein ebensolcher Mythos wie die Behauptung, Einstein sei an seiner Einkommensteuererklärung gescheitert.
Regina ging zu Beratungsstellen für Eltern hochbegabter Kinder, manchmal allein, manchmal mit Bobby im Schlepptau. Dort hoffte sie auf Ratschläge, wie sie ihren Sohn durch die Schule bringen und ihm dabei helfen könne, Kontakte zu Gleichaltrigen zu knüpfen. Bildung hielt sie für das Allerwichtigste. Sie spürte, dass Joan daheim genug Anregung bekam, doch Bobby schien von ihren Versuchen, ihn geistig zu
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