Endspiel - Genie und Wahnsinn im Leben der Schachlegende Bobby Fischer
fördern, völlig unberührt. Er zeigte kein Interesse an den Bücherstapeln im Haus. Regina, eine eifrige Leserin, hatte zwar keinen Uniabschluss, aber doch lange Medizin studiert, sie war Lehrerin gewesen und ewige Studentin. Ihr Zuhause war ein Treffpunkt für Intellektuelle. An Abenden und Wochenenden trafen sich oft Freunde, meist jüdische Intellektuelle, an ihrem Küchentisch und redeten sich die Köpfe heiß. Meistens ging es um Politik oder Kultur. Man diskutierte über Palästina und Israel und erörterte, ob Eisenhower sich um die amerikanische Präsidentschaft bewerben würde. Als innerhalb eines Monats zwei große Pädagogen starben, Maria Montessori und John Dewey, diskutierten die Freunde, ob frühkindliche Förderung nützlich oder schädlich wäre. Bobby und Joan hörten zwar zu, und Bobby mag auch das eine oder andere aufgeschnappt haben, sagte selbst aber nie etwas. Jahre später rutschte ihm heraus, dass er derartiges Geschwätz »hasste«.
Im Alter zwischen sechs und 13 Jahren verbrachte Bobby fast jeden Sommer in einem Ferienlager im New Yorker Hinterland. Einmal, es muss im ersten oder zweiten Sommer gewesen sein, fand er im Lager ein Buch mit kommentierten Schachpartien. Als man ihn 15 Jahre später löcherte, um welches Buch es sich gehandelt haben könnte, antwortete Bobby, vielleicht um Tarrasch’s Best Games of Chess . Bobby hielt den Deutschen Siegbert Tarrasch für »einen der zehn größten Meister aller Zeiten«. Welches Buch auch immer es gewesen sein mag – Bobby lernte, die beschriebenen Züge nachzuvollziehen (die in der bereits kurz erwähnten englischen Notation niedergeschrieben waren; P-K4 steht zum Beispiel für »Pawn to King four«, Bauer auf König vier).
Auch sonst amüsierte Bobby sich im Ferienlager leidlich. Er ritt ein Pferd namens Chubb, tollte mit einem schwarz-weiß gescheckten Kalb herum, spielte hin und wieder Softball und baute im Handwerkskurs ein Boot. Doch zu Gleichaltrigen fand er keinen rechten Draht. Nach einem vollen Monat im Lager nahm er eine der fertig adressierten und frankierten Postkarten, die Regina ihm mitgegeben hatte, und flehte in Großbuchstaben: MAMA, ICH WILL HEIM.
Wenig später vergaß Bobby das Schach für eine Weile. Neue Spiele und Rätsel kamen ins Haus, und das Schachset, dem inzwischen ein paar Bauern fehlten, wanderte in eine Abstellkammer. Erst etwa ein Jahr später kehrte er wieder zum Spiel zurück. Im Winter 1950 wünschte er sich von Regina eine neue, größere Schachgarnitur zu Weihnachten. Sie kaufte ihm ein Set mit relativ kleinen, leichten Holzfiguren, die in einer unlackierten Holzkiste mit Schiebedeckel lagen. Bobby öffnete das Geschenk sofort, ließ es danach aber etwa einen Monat lang links liegen – weil ihm ein Gegner fehlte.
Bobby war oft allein. Wenn er von der Schule kam, stand die Wohnung meistens leer. Seine Mutter arbeitete untertags und manchmal abends, und seine Schwester hatte normalerweise am Nachmittag länger Unterricht. Regina sorgte sich zwar um ihren Sohn, hatte aber keine Wahl: Bobby war ein Schlüsselkind, das sich nach seiner abwesenden Mutter sehnte. Vielleicht hätte ihm ihre Anwesenheit ein dringend benötigtes Gefühl von Sicherheit vermittelt. Die häufigen Umzüge – die der prekären Finanzlage geschuldet waren – hatten überdies verhindert, dass Bobby sich je irgendwo heimisch fühlte. Und die Abwesenheit des Vaters half natürlich auch nicht gerade.
Regina versuchte, ihrem Sohn die Bestätigung zu geben, die jedes Kind braucht. Sie ermunterte ihn, mehr Sport zu treiben, sich an Familienausflügen zu beteiligen und sich in der Schule mehr anzustrengen. Doch ganz im Gegenteil zog Bobby sich immer stärker zurück; er vergrub sich in Schachbücher und spielte historische Partien nach. Könige, Damen und Bauern schienen ihm Gesellschaft genug.
Regina hatte unerschütterliches Vertrauen in ihre Fähigkeit, alles zu erlernen und meisterlich zu beherrschen, was sie sich vornahm (von Schach vielleicht einmal abgesehen). Ihren Kindern traute sie das Gleiche zu. Die Sozialarbeiter, denen sie sich anvertraute, rieten ihr ausnahmslos, Bobby in eine kleine Privatschule zu geben, wo er besser betreut würde und sich in seinem eigenen Tempo würde entwickeln können. Doch das scheiterte wie so vieles am Geld: Sie konnte es sich einfach nicht leisten, Bobby in einer kostenpflichtigen Schule anzumelden. Von Hans Gerhardt Fischer bekam sie keinerlei Alimente, allerdings schickte ihr der Arzt
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