Endspiel - Genie und Wahnsinn im Leben der Schachlegende Bobby Fischer
erfahrene Turnierspieler, einige von ihnen fast so stark wie Max Pavey. Wie sich herausstellte, hätte sich niemand vor einer Blamage fürchten müssen: Bobby verlor an jenem Abend jede Partie.
Trotzdem kam er wieder. Er wurde zum treuen Stammgast, blieb aber weiter das einzige Kind. Das Bild, wie sich ein kleiner Bub geistig mit einem Richter, Arzt oder Professor maß, der acht- bis zehnmal älter war, erregte oft Belustigung oder Staunen. »Anfangs verlor ich dauernd. Das nervte!«, erzählte Bobby später. Gnadenlos verspotteten ihn die siegreichen Gegner: »Fish«, zischten sie (amerikanischer Schachjargon für »Anfänger«), wenn Bobby einen offensichtlichen Patzer machte. Bobby hasste diesen Schimpfnamen besonders, weil er seinem Nachnamen so ähnelte. Er selbst schmähte schwache Spieler später als »weakie«, seltener auch als »duffer« oder »rabbit«.
Nigro, selbst ein hervorragender Spieler, erkannte das Potenzial des Jungen. Nigro wusste, dass Bobby keinen Vater hatte, und wurde ihm zum Mentor. Er lehrte den Jungen Schachtaktik und lud ihn samstags zu sich nach Hause ein. Dort trat Bobby gegen Nigros Sohn Tommy an, der ein wenig jünger war, aber ein bisschen besser spielte. Es machte Tommy nichts aus, gegen Bobby zu spielen, doch von seinem eigenen Vater wollte er sich nichts beibringen lassen. So musste Vater Nigro seinen Sohn mit einem massiven Taschengeld-Bonus bestechen, damit dieser sich bei den Lehrstunden für Bobby zumindest dazusetzte und zuhörte.
Sobald Bobby die Grundzüge des Schachs verstanden hatte, brachte Nigro ihm die ersten Eröffnungen bei. Schon die wenigen ersten Züge einer Begegnung können entscheiden oder zumindest beeinflussen, wie sie später ausgeht. Bei diesen anfänglichen Zügen und Zugfolgen beschreiten die Spieler wohlbekannte Pfade, die über Jahrhunderte hinweg analysiert worden sind. Jeder, der sein Spiel verbessern will, muss sich mit den wichtigsten Standard-Eröffnungen beschäftigen. Weil es aber eine Unmenge von Variationen gibt, fällt es den meisten Spielern schwer, sich nur einen Bruchteil davon einzuprägen. So gibt es nach dem ersten Zug beider Spieler 400 verschiedene Stellungen und nach dem zweiten Zug schon 72 084 – wobei wohlgemerkt nicht alle sinnvoll sind. Doch Bobby stürzte sich entschlossen auf die gewaltige Aufgabe, sich zumindest die wichtigsten Eröffnungen einzuprägen. Zu seinem anspruchsvollen Lehrplan äußerte Bobby sich später: »Mr. Nigro war vielleicht nicht der beste Schachspieler der Welt, aber er war ein sehr guter Lehrer. Dank der Begegnung mit ihm konnte ich mein Schachspiel vielleicht entscheidend verbessern.«
Nigro hatte Spaß am Unterrichten, der Schüler konnte seine wöchentliche Lektion kaum erwarten und wurde bald stärker als Tommy. »Ich begann, an Samstagen zu Mr. Nigro zu gehen«, schrieb Bobby später. »An Freitagen traf ich ihn auch im Club. Meine Mutter hatte als Krankenschwester oft Wochenenddienst und war froh, wenn ich bei [ihm] war.«
1952 nahm Bobby an seinem ersten Wettkampf teil, da war er noch keine neun Jahre alt. Seine Mannschaft bestand aus mehreren Nigro-Schützlingen und gewann 5 zu 3. Bobbys Auftritt war vielversprechend: Er gewann seine erste Partie und erzielte in der zweiten ein Remis gegen den zehnjährigen Raymond Sussmann, den Sohn des Schachmeisters Dr. Harold Sussmann. Dr. Sussmann, ein Zahnarzt, war auch Amateurfotograf, und er machte einige Porträts von Bobby, die später in Büchern über Fischer veröffentlicht wurden. Passenderweise wurde Dr. Sussmann auch zu Fischers Zahnarzt. »Er hatte tolle Zähne«, erinnerte Sussmann sich.
In jenem Sommer und Herbst spielte Bobby auch gelegentlich gegen Jacob Schonberg, einen Cousin seines Großvaters. Der Mann war in seinen Siebzigern und lebte ebenfalls in Brooklyn. Regina nahm den Jungen mit, wenn sie zu Schonberg ging, um ihn zu pflegen. Der alte Mann setzte sich dann im Bett auf, und Bobby spielte gegen ihn. Im Nachhinein erinnerte Bobby sich nicht mehr daran, wie gut Schonberg gewesen war oder wie viele Partien sie gespielt hatten. Doch der Klang seiner Stimme verriet, wie sehr sich Bobby diese Besuche eingeprägt haben. (Vielleicht lag das aber auch nur daran, dass Bobby überhaupt so selten Verwandte sah.)
Carmine Nigro war Berufsmusiker und lehrte Musik verschiedener Stilrichtungen. Als er sah, dass Bobby die Feinheiten des Schachspiels aufsaugte wie ein Schwamm, versuchte er, auch sein Interesse für Musik zu wecken. Nigro
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