Endspiel - Genie und Wahnsinn im Leben der Schachlegende Bobby Fischer
deutlich sichtbaren Fortschritten. Später erinnerte sich Bobby: »Die meisten Bücher der örtlichen Bibliothek hatte ich damals bereits durch. Ich wünschte mir eigene Schachbücher.« Nigro lieh oder schenkte ihm Bücher, und Regina erlaubte ihm gelegentlich, wenn sie ein wenig flüssig war, ein Buch zu kaufen. Mit seinem Taschengeld von 32 Cent am Tag kam er nicht weit. Auch später, als sein Taschengeld auf 40 und dann 60 Cent stieg, ging fast alles für einen Kakao zum Mittagessen und einen Schokoriegel nach der Schule drauf.
Immer wenn Nigro seine aktuellen Chess Review- und Chess Life- Hefte ausgelesen hatte, reichte er sie an Bobby weiter, der sie geradezu verschlang. Bobby liebte die Hefte nicht nur wegen der vielen darin beschriebenen spannenden und lehrreichen Partien, sondern auch wegen der Geschichten über die Großmeister des Schachs. Sie dienten ihm als Inspiration, so wie Plutarchs Lebensbeschreibungen römischer Generäle angehende Soldaten inspirierten oder Vasaris Künstlerbiografien angehende Künstler.
Im Sommer 1954 eröffnete sich Bobby dann die Möglichkeit, einige der Großen live zu erleben, die er bisher nur aus Zeitschriften kannte: Die sowjetische Schachmannschaft kam nach Amerika, zum ersten Mal überhaupt.
Zu jener Zeit herrschte in Amerika eine antikommunistische Hysterie, in der man schon als Kommunist galt, wenn man nur eine rote Krawatte trug. Der Vorsitzende des amerikanischen Schachbunds, Harold M. Phillips, erklärte dann auch fast schon genüsslich, er erwarte, wegen der Einladung des sowjetischen Schachteams vor das Komitee gegen unamerikanische Umtriebe zitiert zu werden. (Was nicht geschah.)
An dieser Stelle muss betont werden, dass das amerikanische und das sowjetische Schachteam damals Welten trennten. Die Sowjets waren allesamt Berufsspieler und Großmeister. Die Bezeichnung Großmeister stammt aus dem 19. Jahrhundert; seit 1950 verleiht der Weltschachbund diesen Titel offiziell an Topspieler, die sich in internationalen Turnieren ausgezeichnet haben.
Die Sowjet-Spieler bezogen ein regelmäßiges Gehalt und bekamen in vielen Fällen auch sogenannte Datschen, also kleine Landhäuser, in denen sie ungestört nachdenken und sich auf Turniere vorbereiten konnten. In den 1950ern genossen die sowjetischen Großmeister daheim ein Prestige wie heute bei uns Filmstars oder Goldmedaillengewinner. Wenn Michail Botwinnik, der spätere Schachweltmeister, das Bolschoitheater betrat, bekam er stehende Ovationen. Mitte der 1950er hatte der sowjetische Schachbund vier Millionen Mitglieder, und Schachspielen gehörte nicht nur zum Lehrplan der Grundschulen, sondern auch zum Pflichtprogramm am Nachmittag. Vielversprechende Nachwuchsspieler erhielten eine gezielte Förderung, oft sogar Einzelunterricht durch Großmeister. So wuchs die nächste Generation von Weltmeistern heran. Das Schachspiel galt in der UdSSR nicht nur als Staatssport, es war auch ein echter Volkssport, tief in der Kultur verwurzelt. Praktisch jeder – Mann, Frau oder Kind Bauer, Beamter oder Arzt – schien Schach zu spielen. Einmal meldeten sich zu einem Turnier in der UdSSR über 700 000 Spieler an!
Die Welt befand sich 1954 mitten im Kalten Krieg; jeder Wettkampf zwischen Amerikanern und Sowjets war auch ein Kampf um die politische Vorherrschaft. Drei Tage vor dem Turnier kommentierte die New York Times : »Ihre Gegner sind sich schmerzlich bewusst geworden, dass die Russen auch am Schachbrett die Leidenschaft, Fähigkeit und Begeisterung für ihre Sache demonstrieren, die ihr Außenminister Molotow auf diplomatischem Parkett zeigt. Sie sind gekommen, um zur höheren Ehre der Sowjetunion zu gewinnen. Gelingt ihnen das, jubeln ihnen daheim die Massen zu, und in der Welt verbuchen sie einen Propagandaerfolg.«
Der amerikanische Schachbund hatte zu jener Zeit nur 3000 Mitglieder, kein nationales Programm zur Jugendförderung und nur einen einzigen Großmeister, Samuel Reshevsky. Sein Titel brachte Reshevsky ein Stipendium privater Förderer von monatlich 200 Dollar ein. Darüber hinaus verdiente er mit Schaukämpfen und Vorträgen etwa 7500 Dollar im Jahr. Es hieß (fälschlicherweise) sogar, er sei so arm, dass er nicht einmal eine eigene Schachgarnitur besitze.
Es war, als träten Drittligakicker gegen die erste Mannschaft des FC Barcelona an: Theoretisch bestand zwar die Möglichkeit, dass die Amateure gewannen, doch rein statistisch lagen ihre Chancen bei deutlich unter eins zu tausend.
Am 16. Juni 1954,
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