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Endspiel - Genie und Wahnsinn im Leben der Schachlegende Bobby Fischer

Endspiel - Genie und Wahnsinn im Leben der Schachlegende Bobby Fischer

Titel: Endspiel - Genie und Wahnsinn im Leben der Schachlegende Bobby Fischer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Brady
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einem Mittwoch, fuhr Bobby zum Roosevelt Hotel, um sich gemeinsam mit Nigro die erste Runde dieser historischen Begegnung anzusehen. Bobby betrat zum ersten Mal im Leben ein Hotel und bestaunte die große Uhr in der Lobby. Er erblickte einige vertraute Gesichter: Etliche Mitglieder des Schachclubs Brooklyn waren gekommen, ebenso ein paar Stammgäste des Washington Square Parks. Gespannt setzte Bobby sich in den Zuschauerraum. Nigro vermerkte, Bobby habe »mit staunend aufgerissenen Augen« auf die Bühne gestarrt, als stünde die Verleihung der Oscars bevor.
    Auf der Bühne hingen vor einem Samtvorhang zwei Fahnen: das Sternenbanner und die unverkennbare blutrote Sowjetflagge mit Hammer und Sichel. Darunter standen, über die Breite der Bühne verteilt, acht Schautafeln, an denen die Züge der Partien angezeigt würden. Dahinter befanden sich die acht Tische mit Schachbrettern und Figuren. 1100 Zuschauer hatten sich eingefunden, mehr als je zuvor bei einem amerikanischen Schachturnier.
    Die Spieler standen schon auf der Bühne und warteten auf das Signal des Schiedsrichters, ihre Plätze einzunehmen und zu beginnen. Der sowjetische Spieler David Bronstein bat um ein Glas Zitronensaft – nein, keine Limonade, reinen Zitronensaft, bekräftigte er – und leerte es in einem Zug. Jemand bemerkte, das amerikanische Team wirke nervös. Und es gab auch allen Grund für Nervosität: Amerika hatte die letzten zwei Begegnungen mit den Sowjets verloren, außerdem befanden sich die Sowjets in Topform. Das hatten sie gerade erst in Buenos Aires und Paris bewiesen, wo sie die dortigen Nationalteams vernichtend geschlagen hatten. Donald Byrne, der Gewinner des jährlichen Schachturniers American Open, erzählte, er sei derart angespannt gewesen, dass er am Tag vor dem Match eine Liebesgeschichte gelesen habe, um sich vom Schach abzulenken.
    Bevor es endlich losging, wurden noch ein paar Reden geschwungen, wie das Schach zur Völkerverständigung beitragen könne. Stolz beobachtete Nigro, wie aufmerksam sein Schützling alles um ihn herum verfolgte und aufsog.
    Verstand Bobby die politische Tragweite der Begegnung? Drückte er seinem Team die Daumen? Träumte er davon, selbst einmal auf einer ähnlichen Bühne zu stehen und gegen die besten Spieler der Welt anzutreten? Das darf man getrost vermuten, auch wenn Bobby nie öffentlich über diese Begegnung sprach.
    Bobby verfolgte die Partien gebannt, bekam aber mit, wie Schachfans draußen vor dem Saal fachsimpelten. Andere Zuschauer verließen den Ballsaal nur, um sich schnell Thunfisch- oder Schinken-Käse-Sandwiches zu holen. Ganz begeistert war Bobby, als er Dr. Reuben Fine im Publikum erspähte, den damals wohl zweitstärksten Spieler Amerikas. Seine Schachbücher verehrte Bobby fast wie Bibeln. (Dr. Fine spielte nicht selbst mit, weil er sich 1948 vom Wettkampfschach zurückgezogen hatte.) Auf der Bühne erkannte Bobby auch Max Pavey, der ihn drei Jahre zuvor in einer Simultanschachpartie geschlagen hatte.
    Als Nigro Bobby mit dem Journalisten Murray Shumach von der New York Times bekannt machte, starrte der schüchterne Junge nur betreten auf seine Schuhe. Auch der Schachmeister Allen Kaufman traf Bobby an jenem Tag zum ersten Mal. Über ein halbes Jahrhundert später erinnerte Kaufman sich: »Er schien ein netter Junge zu sein, etwas schüchtern. Nichts ließ erahnen, dass ich mit einem zukünftigen Weltmeister redete.« Am nächsten Tag charakterisierte Shumach das Publikum humorig: »Schachfans sind wie Dodgers-Anhänger mit Kehlkopfentzündung – leidenschaftlich mitfiebernde Männer, die aber nur flüstern können.«
    Je komplexer die Partien wurden, desto intensiver tuschelten die Zuschauer miteinander. In der Summe klangen diese gewisperten Unterhaltungen wie eine leichte Winterbrise oder ein sommerliches Meeresrauschen. Gelegentlich, nach einem umstrittenen Zug, während eines besonders komplexen Schlagabtauschs oder wenn der klein gewachsene Lokalmatador Reshevsky 70 Minuten für einen Zug brauchte, schienen sich 2200 Augenbrauen gleichzeitig zu heben. Wenn der Lärm zu sehr zunahm, musterte der äußerst förmliche niederländische Schiedsrichter Hans Kmoch das Publikum finster und mahnte streng: »Ruhe bitte!« Betreten hielten sich die Ermahnten dann ein paar Minuten lang zurück.
    Bobby genoss das Ereignis und schrieb die Ergebnisse mit, als wäre er im Baseballstadion. Sorgfältig verzeichnete er die Resultate der Partien: 0 für eine Niederlage, 1 für einen

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