Endspiel - Genie und Wahnsinn im Leben der Schachlegende Bobby Fischer
paar Sekunden länger nach, forderte der Gegner – oder ein vorher festgelegter Zeitwächter – »zieh!«. Zog man dann nicht sofort, hatte man die Partie verloren. Dieses tausendmal wiederholte »Zieh!« schallte jeden Tag durch den Park. Bobby spielte Blitzschach nur, weil Nigro ihn dazu drängte, und er stellte sich anfangs auch nicht besonders gut an. Aber er lernte im Park rasch, Stellungen flott einzuschätzen und seinen Instinkten zu vertrauen.
Auch am Tag des Turnierbeginns nahm Bobby auf einer Holzbank Platz und zog seine Figuren über die rötlichen und grauen Quadrate der Steintische. Sobald die Lage vertrackt oder kritisch wurde, brauchte der Junge übermäßig viel Bedenkzeit. Oft musste er auf der Bank knien, um den Überblick zu behalten. Gelegentlich schwebten rosafarbene und weiße Blütenblätter von spät blühenden Kirschbäumen auf das Feld oder Bobbys Kopf herab. Hunde liefen vorbei und schnüffelten unter den Tischen herum, während ihre Herrchen verzweifelt an der Leine zogen oder Kommandos brüllten. Manche Kiebitze gaben hartnäckig (unerwünschte) Ratschläge, bis der Turnierleiter, José Calderon, sie verscheuchte.
Während der Partien verschwand Nigro regelmäßig für ein paar Minuten und besorgte dem Jungen in einem nahe gelegenen Restaurant einen Hamburger, Fritten und einen Schokomilchshake. Geistesabwesend verdrückte Bobby sein Mittagessen, die Augen immer aufs Brett geheftet. Wie immer spielte er mit einer Ernsthaftigkeit und Konzentration, die die Zuschauer beeindruckte. Einmal flüsterte Bobby eine halbe Stunde nach dem Mittagessen: »Mr. Nigro, wann gibt es was zu essen?« Er hatte gar nicht gemerkt, dass er seinen Burger längst verdrückt hatte.
1955 nahmen am Turnier im Washington Square Park 66 Spieler verschiedenster Stärke und Begabung teil. Da die Anmeldegebühr nur zehn Cent betrug (die gesammelten 6,60 Dollar wurden dem Roten Kreuz gespendet), konnte wirklich jeder teilnehmen. So kamen blutige Anfänger, die kaum die Regeln kannten, aber auch erfahrene Vereinsspieler, die ihr Leben lang Schach gespielt hatten, sowie einige wenige Topspieler. Bobby war so in seine Partien vertieft, dass er gar nicht mitbekam, wie einige der besten Spieler Amerikas vorbeischauten und das Geschehen an seinem Brett verfolgten: Sie hatten sich in New York getroffen, um anschließend zusammen in die Sowjetunion zu fliegen, zu einem weiteren Wettkampf gegen die Sowjets.
Bobby gewann eine Reihe von Partien gegen schwächere Teilnehmer, doch als er im Klassement aufstieg, bekam er härtere Nüsse vorgesetzt und verlor mehrmals. Harry Fajans, ein gertenschlanker Schlaks mit schlechter Haltung, erzählte später, Bobby sei nach der Niederlage gegen ihn in Tränen ausgebrochen. Dabei gab es keinen Grund zur Scham: Fajans war ein sehr starker Turnierspieler und Mitglied des hoch angesehenen Marshall Chess Club. Als Bobby Jahre später auf diesen Vorfall angesprochen wurde, wies er Fajans’ Darstellung entrüstet zurück.
Das Turnier zog sich bis in den Oktober hinein, und in den letzten Wochen war es oft kalt und regnerisch. Einmal hatte Bobby eine viel zu dünne Jacke dabei, hielt aber dennoch durch. Manchmal glitten seine Figuren vom Betontisch, so rutschig war er vom Regen. »Wir waren froh, als es vorüber war«, erinnerte Fischer sich.
Er wurde Fünfzehnter und gewann als Preis einen Kugelschreiber, vielleicht als jüngster Teilnehmer. Später erzählte er: »Ich war enttäuscht, als man mir den Stift überreichte, denn er sah aus wie ein Vierteldollar-Kuli.« Einige Wochen später spazierten er und seine Mutter aber an einem Drugstore vorbei, wo Regina einen identischen Kugelschreiber im Schaufenster sah. Auf dem Preisschild stand zehn Dollar. »Danach fühlte ich mich besser«, scherzte Bobby.
Sein gutes Abschneiden im Washington Square Park brachte Bobby seine erste namentliche Erwähnung in einer größeren Zeitung ein: Die New York Times berichtete kurz über die Ergebnisse des Turniers, auf der Seite mit den Nachrufen. Die Überschrift lautete: »Eastman siegt am Washington Square – Bub, 12, vorn dabei.«
Obwohl Charles Eastman das Turnier gewonnen hatte, bekam Bobby mehr Platz im Artikel. Großes, manchmal überwältigendes Interesse der Medien an Bobby – dieses Phänomen sollte ihn von nun an bis zum Lebensende begleiten. Der Reporter schrieb: »Viele der 400 Zuschauer befanden, die beste Show habe Bobby Fischer abgeliefert. Trotz starker Konkurrenz durch reifere und
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