Endstation Belalp - ein historischer Bergkrimi
anderen jungen Frauen zum Bedienen engagiert. Und wie es an Dorffesten üblich war, spielte eine kleine Musik und forderte zum Tanz auf. So war der Anfang gemacht. Pierre fand dann immer neue Gelegenheiten, um Amalia zu treffen. Als er dann aber bei Vater Brindlen um die Hand der Tochter anhielt, war Amalia ganz aufgeregt. Der Vater war zuerst skeptisch. Einen Auswärtigen als Schwiegersohn? Doch nachdem er über die Familie Germanier Genaueres in Erfahrung gebracht hatte, gab er seinen Segen. Denn was er in Erfahrung bringen konnte, gefiel ihm. Eine Weinbauernfamilie aus Sierre, die früh auch im Gastgewerbe tätig war. Damals hatten die Germaniers noch keine Hotels, das kam später. Jedenfalls wurde bald geheiratet. Sie hatten Mut, die Germaniers, besonders Pierre, das gefiel dem Vater ebenso wie Amalia. Dafür nahm sie in Kauf, dass er sie oft alleine liess, jedenfalls während der Sommersaison. Aber er vertraute ihr auch, und das tat Amalia gut.
Amalia dreht den Brief um, manchmal schreibt Pierre noch eine Notiz für sie auf die Rückseite. Doch sie ist leer. Er hatte ihren Brief natürlich noch nicht erhalten, als er diesen abgeschickt hat. Amalia lässt die Hand mit dem Brief in den Schoss sinken und blickt hinüber zur Riederfurka. Hoffentlich kommt er nicht zu spät, denkt sie.
4. Eine grosse Aufregung!
Als Amalia eine Weile später wieder den Speisesaal betritt, haben sich fast alle Gäste schon auf die Sonnenterrasse hinausbegeben. Nur Duncan sitzt noch da und wirkt vergnügt, während er die letzten Bissen seines Frühstücks zu sich nimmt. Er schleckt sich einen Tropfen Heidelbeerkonfitüre vom Daumen und schabt einen Rest Rührei vom Teller. Durch das Fenster sieht Amalia, dass die Damen Bücher in den Händen halten und den zweiten Frühstückstee geniessen.
Amalia betritt die Terrasse und trifft erneut auf Lady Farthing. «Sagen Sie, Madam Amalia, wo ist denn eigentlich der Professor mit seiner jungen Gattin geblieben? Ich habe sie heute noch nicht gesehen.»
Amalia überlegt verzweifelt, was sie darauf sagen will, und blickt ins Tal. Dort sieht sie einen jungen, drahtigen Wandersmann die steile Bergwiese heraufstapfen. Er hält einen umgekehrten Alpenstock in der rechten Hand, auf den er sich bei jedem seiner zügigen Schritte abstützt. Er trägt eine rostbraune, halblange Filzhose, ein Hirtenhemd aus weissem Barchent und eine lose, etwas zu grosse Jacke in derselben Farbe wie die Hose. Jetzt zückt er seinen flachen rötlichen Filzhut, in dessen Band er ein grünes Arvenzweiglein gesteckt hat, und winkt den Gästen auf der Terrasse damit zu. Er hat lediglich eine Stofftasche um die Schulter gehängt. Wenn das der Zenger ist, denkt Amalia, dann hat er darin seinen Notizblock und die Schreibutensilien. Sein Gepäck lässt er immer bringen.
Der Wandersmann nähert sich. Es ist der Zenger, und er platzt wie üblich mit einer lauten Bemerkung mitten ins Geschehen hinein:
«Guten Tag, Madam Germanier, was will eigentlich die Gendarmerie hier oben?»
Die Hotelgäste, die eben noch in ihre Bücher vertieft waren, ihre Fingernägel putzten oder ein Fernglas aufschraubten, richten jetzt ihre Blicke allesamt auf Amalia. Die Gendarmerie?, scheinen sie zu fragen, das ist ja nun wirklich eine Abwechslung!
Amalia steht plötzlich im Zentrum der Aufmerksamkeit. Sie überlegt noch immer fieberhaft, was sie jetzt sagen soll, ohne die Gäste zu beunruhigen. Sie muss Haltung bewahren. Sie lächelt Zenger freundlich an und begrüsst ihn mit ausgestreckten Armen.
«Willkommen im Hotel Belalp», sagt sie etwas übertrieben laut und deutlich, «Sie müssen müde sein, kommen Sie doch herein, ein Imbiss wartet auf sie.»
Doch Zenger lässt sich nicht leicht von einem Punkt abbringen, der ihn interessiert:
«Ich habe unterwegs Ihren Hirtenbuben getroffen, und er hat mir gesagt, er müsse den Landjäger aus dem Dorf holen.» Zenger blickt herausfordernd in die Runde. «Vielleicht interessiert das die hier Anwesenden ebenfalls. Es sei denn, Sie wissen alle längst, worum es hier geht. Ich jedenfalls verlange eine Erklärung.»
Und mit dieser Bemerkung setzt er sich auf eine Holzbank, lehnt sich vor, stützt beide Hände auf die Knie und starrt Amalia herausfordernd an. Amalia stellt irritiert fest, dass Zenger dabei keinen besorgten Eindruck macht. Er sieht eher so aus, als würde er sich auf einen unterhaltsamen Nachmittag freuen. Das hat ihr gerade noch gefehlt – einer, der alles ans Licht zerrt und womöglich
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