Endstation Belalp - ein historischer Bergkrimi
männlich geschneiderter Garderobe, Damenpfeife und rotem Haarschopf. Die unzähligen Sommersprossen auf ihrem Gesicht und ihren Armen tun das ihre dazu. Aber am meisten zu schaffen macht den selbst ernannten Einvernahmeoffizieren, da ist sich Amalia sicher, der für eine Dame ungewöhnlich selbstsichere Auftritt von Lady Farthing. Sie ist unverheiratet, laut und hat in wissenschaftlichen und mehr noch in religiösen Fragen eine eigene Meinung, mit der sie nicht zurückhält.
Amalia hingegen bewundert diese Frau, die sich so unabhängig in der Welt bewegt. Kein Gatte, keine Familie, die ihr Leben bestimmt, keine Kinder, die an ihren Rockzipfeln zerren. Leidenschaften, das ist es, was die Lady von so vielen Frauen unterscheidet, offen gelebte Leidenschaften. Welche andere Frau klettert auf die höchsten Gipfel? Reist in der Welt herum, um Vorträge zu hören über Gletscherforschung oder Bergsteigertechnik? Letzthin hat ihr Lady Farthing erzählt, sie sei an einem sehr interessanten Vortrag über Gletscherfindlinge gewesen. Amalia erinnert sich genau. In dem Vortrag habe es geheissen, diese steinernen Formationen seien einfach übrig geblieben, nachdem die Gletscher geschmolzen waren. Lady Farthing kicherte, als sie schilderte, wie ein Teil des Publikums empört allerlei Gegenstände auf die Bühne geworfen habe, bis der Referent sich hinter sein Pult duckte und schliesslich seinen Vortrag beenden musste. Das seien Tiere, die auf der Arche Noah keinen Platz mehr gefunden hätten, schrie man im Saal.
Solche Sachen erzählt ihr die Lady. Amalia hat darüber auch in Naters reden gehört. Sie weiss nicht recht, welcher Erklärung sie denn nun glauben soll. Lady Farthings Ausführungen schienen ihr jedenfalls sehr plausibel. Aber vor dem Pfarrer würde sie das nicht offen zugeben.
«Trali trala, ich bin da. Na, seid ihr weitergekommen? Ich habe extra wegen euch ein Bingospiel unterbrochen. War gerade am Gewinnen. Aber was solls?», krächzt sie mit ihrer hohen Stimme, die so gar nicht zu der kräftigen Statur passen will.
Sir Butterworth hat Kamil die Personalien diktiert und dafür gesorgt, dass er richtig buchstabiert. Er geht direkt zur Sache:
«Lady Farthing, wissen Sie etwas über den Konflikt zwischen James McGregor und den Bergführern in Chamonix?»
«Sie meinen diese gruselige Leichenschau? Brr!», und sie schüttelt sich, als ob sie vom Gedanken allein Allergien bekommen könnte.
«Leichen-was?» Amalia, Sir Butterworth und Kamil sehen sie verdutzt an.
«Sie haben richtig gehört, yes Sir , Leichenschau. Da werden die schlimmsten Sachen gezeigt. Ein einziges Gruselkabinett, sage ich Ihnen.»
«Wie? Was? Das müssen Sie uns erzählen! Mit eigenen Augen wollen Sie das gesehen haben?», fragt Sir Butterworth ungläubig.
«Ich habe selber nichts gesehen, aber James McGregor hat uns davon erzählt. Duncan ist dann gleich nach Chamonix gereist. Er hat sich vor Ort selber ein Bild gemacht, Sie können ihn fragen.»
«Den hatten wir doch vorhin hier, weshalb hat er nichts davon gesagt?», ärgert sich Sir Butterworth.
«Sie können auch mich fragen, ich habe es ja direkt vom Professor erfahren, ich erkläre es Ihnen gern», fährt Lady Farthing fort. «Sie nennen es Museum, aber eigentlich ist es nur ein Stall. Dort muss man Eintritt bezahlen und kann sich dann diese armen geschundenen Körper ansehen, die sie weiter oben aus dem Gletscher zerren. Man kann offenbar nicht von ganzen Körpern reden, sondern eher von abgetrennten Füssen, Armen oder Beinen. Manchmal sogar ein Stück Mittelkörper, eine Schulter, einen Bauch oder so etwas.» Lady Farthing schüttelt sich mit einer Mischung aus Abscheu und schlecht verhohlenem Entzücken.
«Gütiger Gott! Giovanna hat nur einen Schuh und ein paar Haare erwähnt!», entsetzt sich Amalia.
Lady Farthing zuckt mit den Schultern. «Die profitiert davon natürlich, und auch ihre Familie. Ich finde, McGregor hat ganz Recht, das geht nicht, dass diese Bergbauern mit unseren Leichenteilen Geld machen. Stellen Sie sich das einmal vor!»
«Was lag denn in diesem Gletscher? Und wie können sie das überhaupt herausholen?», Amalia kann sich das nicht recht vorstellen.
«Ganz einfach», beginnt die Lady, sichtlich erfreut darüber, etwas von ihrem Wissen über Gletscher zum Besten geben zu können. Sie verfolge seit Jahren die Vorträge von Professor McGregor. Gemäss den Gletscherforschern bewege sich der Gletscher so etwa wie ein Fluss in Zeitlupe, für das menschliche
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