Endstation Färöer
Herr weiß, was er tut.« Die Stimme war schrill und der schnelle südfjordische Akzent schnitt wie ein Messer ins Ohr.
»Der Herr weiß, was er tut?«, wiederholte ich überrascht. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass er so schnell in die Sache mit hineingezogen werden würde.
Sie begann zu predigen: »Kein Entmannter, sei es nun durch Zerschmettern oder durch Verschneiden, soll in die Gemeinde des Herrn kommen. Kein Hurenkind soll in die Gemeinde des Herrn kommen, bis ins zehnte Glied hinein soll seine Nachkommenschaft nicht in die Gemeinde des Herrn kommen.«
Jetzt war mir klar, dass sie geisteskrank sein musste. Trotzdem fragte ich vorsichtig: »Was wollen Sie mit dieser Bibelstelle sagen? Wenn es sich denn um eine handelt.«
»Natürlich ist das eine Bibelstelle. Fünftes Buch Mose, Kapitel 23, Vers 1 und 2. Sie kennen die Bibel nicht, aber ich, und der Lohn der Sünde wird auf die Kinder vererbt. Wollen wir nur hoffen, dass Er in seiner Gnade die Sünden der Mutter nicht auf das kleine unschuldige Kind überträgt.« Sie begann, ein neues Bibelzitat herunterzuleiern.
Ich wurde immer verwirrter von ihrem Geschwätz und eines war klar: Von ihr war keine Hilfe zu erwarten. Sie war gerade mit einer Stelle aus der Offenbarung fertig, als es mir gelang einzuwerfen: »Ja, das stimmt. Und selten landen Fliegen in der Schüssel eines sterbenden Mannes.«
»Das ist gewisslich wahr«, predigte die Schwester weiter. Dann hielt sie inne und für einen Moment war da eine erholsame Stille. »Das ist nicht aus der Bibel. Woraus ist das? Denn das sage ich Ihnen, wie ich es auch allen anderen sage: dass der, der sich an die Schrift hält …«
»Nein, das ist nicht aus der Bibel«, unterbrach ich sie.
»Das war aus Hammershaimbs Anthologie.«
Ich schmiss den Hörer auf die Gabel.
Was nun?
Ich nahm den Hörer, der gerade diese unsanfte Behandlung zu spüren bekommen hatte, wieder in die Hand und rief im Bladet an, Sonjas Arbeitsplatz in den letzten zehn Jahren. Eine Urlaubsvertretung erzählte mir, dass sie nicht genau wusste, womit Sonja sich zuletzt befasst hatte, und dass die Kollegen fast alle im Urlaub wären. Aber ich dürfte gern mal vorbeischauen. Sonjas Büro war wegen der Urlaubszeit noch unbesetzt, es war noch keine neue Kraft für sie eingestellt worden.
Vielleicht fand ich dort etwas?
9
Es war schon später Vormittag, als ich die J. C. Svabosgøta in Richtung Bladet ging. Das Wetter war schön, die Sonne wollte durchbrechen, aber es war nicht warm. Elf Grad vielleicht. Genau das richtige Wetter für mich.
Von der Schiffswerft her hörte ich Hämmern, ansonsten war es so ruhig, wie es an einem Werktag nur sein konnte. Nur ab und zu fuhr ein Auto vorbei, sodass die Patienten auf der Pflegestation des Zentralkrankenhauses vielleicht mal etwas Ruhe hatten. Die Planung der verantwortlichen Stellen war nämlich genial: Das Krankenhaus ist zu beiden Seiten einer der Hauptstraßen der Stadt gebaut worden. Die Pflegeabteilung, in der Ältere und Schwächere wieder zu Kräften kommen sollen, liegt direkt an der Straße, und jedes Mal wenn ein Lkw vorbeifährt, erzittert das ganze Gebäude. Vielleicht ging man davon aus, dass die Alten auf dieser Station sowieso taub waren und ihnen der Straßenlärm nichts ausmachte. Oder wollte man ihnen einen zusätzlichen Stoß versetzen?
Ich ging ums Krankenhaus herum auf dem Fußweg nach Sandagerø.
Als ich an dem alten, grasgedeckten Propsthof vorbeikam, fühlte ich mich für einen Augenblick in die Jahrhundertwende zurückversetzt. Diese Ruhe und Schönheit gehörten nicht in unsere Zeit. Beim Bladet waren sie freundlich und hilfsbereit wie immer. Mir wurde Sonjas Büro gezeigt und man erlaubte mir, mich umzusehen, so lange ich wollte. Niemand fragte mich, wonach ich eigentlich suchte. Oder warum. Vielleicht weil es nur Urlaubsvertretungen waren? Oder einfach weil sie selbst es so gewohnt waren zu suchen, dass sie sich nicht einmischten, wenn ein Kollege das Gleiche tat?
Sonjas Büro sah aus, wie es bei Zeitungen eben auszusehen pflegt: eine große Unordnung. Papier, Bücher, Zeitungen, DIN-A4-Mappen, Behälter mit Bleistiften und Kugelschreibern, Filzstifte in verschiedenen Farben. Ein Aschenbecher, bis zum Rand voll mit Kippen. Wahrscheinlich seit Sonjas Tod nicht geleert. Ich nahm eine der Kippen. Prince Light, das passte zu ihr.
Die Wände waren mit Jute tapeziert und als Pinnwand benutzt worden. Alles Mögliche zwischen Himmel und Erde hing hier, aber nichts,
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