Endstation Nippes
Jugendamt angeschwärzt. Weil die Chantal da ‘n paarmal nicht aufgetaucht ist, in der Schule, und keine Entschuldigung hatte. Ja, und weil die halt schon mal was anhatte, was jetzt nicht frisch gewaschen war. Echt, was geht die das an!«
Sie verkroch sich immer mehr in ihre Wut, ihren Schmerz, ihre Schuldgefühle. Also ließ ich das Thema sein. Sah nun auch auf die Uhr. Ich musste los, sonst stand Gitta vor der verschlossenen Tür. »Nele, erzählste mir noch kurz, was dann mit den Kids …«
»Ja was wohl!«, fiel sie mir ins Wort. »Ins Heim haben die sie gebracht. Und die Nicole wollte in die Entgiftung. Und am Abend, bevor sie in Düren antanzen sollte, hat sie die Scheißschore erwischt, die damals rum war, wo schon vier Leute dran gestorben sind. Und sie war dann die Fünfte.«
Es war plötzlich vollkommen still. Niemand sprach, kein Auto fuhr auf der Straße vorbei, nicht einmal die Tauben gurrten. Ich konnte das leise Rascheln hören, als der Mann am Nebentisch eine Seite seiner Zeitung umblätterte. Dann heulte auf der Mauenheimer eine Sirene los, dann noch eine und noch eine. Alle wandten die Köpfe Richtung Straße. Ich sah Nele an. Sie schenkte dem Lärm keine Beachtung, starrte auf die alte Mauer und hatte die rechte Hand zur Faust geballt. Ich berührte sie leicht, sie zog sie zurück.
»Ich muss nach Hause«, sagte ich.
»Dann lass uns gehen.«
Auf dem Weg zurück entlockte ich ihr den Rest der Geschichte. »Der Hotte-Opa« war der Vater von Chantals Vater Ricki. Der wiederum hatte sich nach der letzten Langzeittherapie verabschiedet. Auf Nimmerwiedersehen. Hotte hatte sich für seinen Sohn geschämt und Nicole ab und zu mal Geld für Chantal gegeben. Und sie und die Kids an Sonntagen zu McDonald’s eingeladen. Das Problem war bloß: Hotte ist von Beruf Einbrecher, und er ist offenbar nicht der Obercrack in seiner Branche, jedenfalls sitzt er immer mal wieder in Ossendorf. Wer Marcos Vater war, wusste Nele nicht, meinte aber, möglicherweise ein Freier: »Das kann passieren. Wennde auf Turkey bist, machste schon mal ohne Gummi. Und die Nicole hat nie da drüber geredet, von wem sie den Marco hat. Die hätt den wohl auch abgetrieben, aber sie hat’s erst zu spät gemerkt, dass sie wieder schwanger war.« Während Marcos Schwangerschaft war sie auch nicht clean geworden. Der Kleine hatte nach der Geburt vier Wochen lang in der Kinderklinik Entzug machen müssen. Das alles klang in meinen Ohren nicht so, als hätte Nicole den Jungen wahnsinnig geliebt. Wie auch, wenn er wirklich von einem Freier stammte.
Nele hatte die beiden Kinder, nachdem sie ins Heim gekommen waren, gelegentlich von der Schule abgeholt und ihnen ein Eis spendiert. »Die hatten ja keinen mehr«, meinte sie trocken. »Aber wie das so ist …«
Irgendwann war es ihr zu viel geworden. So ein Junkieleben ist schließlich anstrengend. Sie stierte den Rest des Weges böse vor sich hin. Böse auf sich selbst. Und vermutlich auch auf mich, weil ich sie gerade ständig mit der Nase auf das Thema Kinder stieß.
SECHS
Die verkohlte Kinderleiche ging mir nicht aus dem Kopf. Leichter, schalt ich mich, du siehst Gespenster. Aber das komische Gefühl blieb. Also googelte ich mir die neuesten Nachrichten, aber die brachten nicht viel. Mehr Spekulationen als Fakten. Ich gab es auf. Gitta hatte mir »Lady sings the Blues« mitgebracht. Als meine älteste Freundin weiß sie, was mir guttut. Ich legte die Füße hoch und hörte mir die CD an. Volle Lautstärke, Tränen in den Augen. Als Punk hatte ich Jazz, einschließlich Billie Holiday, ignoriert. Ich hatte nichts dagegen, aber es war auch nichts für mich. Dann hörte ich, schon etwas älter und reifer sozusagen, zufällig auf einer Party »Strange Fruit« und bekam keine Luft mehr. Seither bin ich Billie-Holiday-Fan, auch wenn ich sie selten höre, denn dafür muss ich auf dem Sofa liegen, einen guten Tee oder auch eine gute Tüte bei der Hand haben und ganz viel Zeit. Im Moment hatte ich von alldem nur den Tee, aber man kann nicht den ersten Track von »Lady sings the Blues« hören und dann einfach aufhören.
Rosa sprang auf meinen Schoß und knabberte an meinen Fingern. Ich kraulte sie hinter dem linken Ohr. Sie schnurrte so laut, dass sie wie ein Begleitinstrument zu Wynton Kellys Piano klang. Das Telefon riss mich aus den Träumereien. Meine Lieblingsredakteurin wollte wissen, wann sie das Manuskript des Pflegemütter-Features haben könnte. Gute Frage. Ehrlicherweise hätte ich
Weitere Kostenlose Bücher