Endstation Nippes
antworten müssen: Ich bin mir gar nicht sicher, ob das überhaupt etwas wird. Stattdessen behauptete ich, ich bräuchte noch zwei Wochen. Das war verdammt knapp kalkuliert, aber andererseits war ich jetzt gezwungen, endlich voranzumachen. Also rief ich Frau Grimme an. Sie klang seltsam, irgendwie verlangsamt, und wäre sie nicht diese spezielle Lady gewesen, hätte ich gesagt, die ist am Abkacken. Sie meinte, wir könnten das Interview auch gleich machen, sie habe gerade Zeit. Ich fragte, wo sie wohne, aber sie wollte lieber zu mir kommen.
Ich inspizierte Flur, Küche und Bad. Das Licht im Flur ist so spärlich, dass sie den Teppich nicht wirklich würde sehen können. Im Bad wischte ich eilig das Waschbecken aus und hängte ein neues Handtuch hin. Das Problem war die Küche. Als sie halbwegs so aussah, wie es bei zivilisierten Menschen wohl üblich ist, läutete es auch schon an der Tür. Etwas außer Atem öffnete ich, dabei fiel mir ein, dass ich es nicht mehr geschafft hatte, auch mich selbst noch auf Vordermann zu bringen. Respektive Vorderfrau. Ich war ungeschminkt, hatte die Haare hinten zusammengebunden und trug meinen ausgeleierten, löchrigen alten Trainingsanzug, sprich meine Arbeitskleidung, wenn ich nicht rausmuss. Und daran ließ sich jetzt nichts mehr ändern.
Frau Grimme hatte Schatten unter den Augen und wirkte nervös. Ich platzierte sie am Küchentisch, stellte Wasser für Tee auf und holte das Aufnahmegerät aus meinem Arbeitszimmer. Das ist gleichzeitig mein Wohnzimmer, und da dürfen nur meine allerengsten Freundinnen rein. Und mein Liebster natürlich. Aber selbst mit ihnen sitze ich meistens in der Küche. Rosa linste um die Ecke und verzog sich wieder.
Die Lady sah mir zu, wie ich das Gerät anwarf und das Mikro aufbaute. »Ach so, muss ich in ein Mikrophon sprechen?«, rief sie erschrocken.
Ich verkniff mir die Antwort »Ja, sonst kann man Sie im Radio nicht so gut hören«. Obwohl sie mir auf der Zunge lag. Stattdessen erklärte ich ihr auf das Freundlichste das ganze Prozedere. Und dass ich alle »Ähs« und »Ehems« rausschneiden würde. »Sprechen Sie ganz normal«, ermutigte ich sie, »ignorieren Sie das Mikrophon, und wenn Sie das Gefühl haben, Sie haben etwas auf eine Art formuliert, die Ihnen so nicht gefällt, dann sagen Sie es einfach noch mal. Wir haben Zeit, und, wie gesagt, ich muss ohnehin schneiden.«
Sie wirkte ganz und gar nicht beruhigt. Inzwischen hatte das Wasser gekocht, ich brühte den Tee auf, stellte die Tassen auf den Tisch und machte eine Sprechprobe mit Frau Grimme, solange der Tee zog. Dann tranken wir schweigend, während sie das Mikro anstarrte. Ihre Nagelhaut war so weit abgekaut, dass sie an einigen Stellen blutete. Die Frau sah aus, als hätte sie etwas völlig aus der Bahn geworfen. Nur der Oberschichtton war ihr geblieben und verhinderte trotz ihres elenden Zustands, dass echtes Mitgefühlt in mir keimte. Ich schämte mich mal wieder vor mir selbst und bemühte mich um einen ganz besonders herzlichen Tonfall.
»Sie wollten mir etwas darüber erzählen, wie schwer es ist, ein Kind bei sich aufzunehmen, es lieb zu gewinnen und dann wieder abgeben zu müssen?«
»Ja, und nicht nur das!« Sie richtete sich auf und sah mich vorwurfsvoll an. »Man muss das Kind an eine Mutter abgeben, die es genauso vernachlässigen und misshandeln wird wie vorher! Und man weiß das. Aber das Jugendamt ist anderer Ansicht. Wissen Sie, nur weil eine Frau ein Kind neun Monate lang ausgetragen hat, ist sie noch lange keine Mutter.«
Ich fuhr den Pegel herunter, aber jetzt sprach sie wieder leise und höflich. Offenbar hatte sie gemerkt, dass sie etwas entgleist war.
»Entschuldigen Sie. Ich bin so aufgeregt, weil … Ich war jeden Tag am Bahnhof, aber ich habe meine Kleine nicht gesehen. Und dann diese Kinderleiche im Rhein …«
»Haben Sie Angst, es könnte Ihr Mädchen sein?«, fragte ich, so sanft ich konnte.
Sie schrak hoch. »Tamara?« Schreckgeweitete Augen. »Warum fragen Sie das?«
Komisch, dachte ich, du hast doch mit der Kinderleiche angefangen. »Sie haben mir erzählt, dass das Mädchen zu Ihrer Verabredung nicht gekommen ist und Sie sich deshalb Sorgen machen«, sagte ich laut. »Deshalb dachte ich …«
»Bitte sagen Sie so etwas nicht!« Zittrige Kleinmädchenstimme. Irgendetwas an ihrem Verhalten war nicht stimmig. Aber sie war auch ganz offensichtlich durch den Wind.
»Tut mir leid. Machen wir mit dem Interview weiter?«
Sie nickte. Rührte mit
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