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Endstation Nippes

Titel: Endstation Nippes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Strobl
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dem Löffel in der Teetasse herum. Ich hatte wieder den Fehler begangen, vor dem Interview nicht abzuräumen. Also musste ich ihr erklären, dass ich die Stellen, an denen sie mit dem Geschirr klapperte, nicht verwenden konnte. Sie entschuldigte sich schon wieder. Ich lächelte ihr ermutigend zu und räumte den Tisch ab.
    »Die Kinder, die man als Pflegemutter bekommt, sind häufig traumatisiert. Und als Pflegemutter hat man es dann mit den Auswirkungen der Traumatisierung zu tun. Und das ist nicht immer leicht.«
    Ich wünschte mir, sie würde nicht ständig »man« sagen, aber ich wagte es nicht, sie schon wieder zu unterbrechen. Stattdessen fragte ich: »Inwiefern?«
    »Nun, diese Kinder kommen aus, äh, schwierigen Verhältnissen. Ihre Eltern sind meistens arbeitslos, wenn sie überhaupt Eltern haben. Oft gibt es da nur die Mutter. Manchmal weiß man noch nicht einmal, wer der Vater ist. Diese Mütter sind drogenabhängig oder alkoholkrank, oft sind sie völlig asozial und in jedem Fall mit den Kindern heillos überfordert. Im besten Fall vernachlässigen sie die Kleinen, das heißt, sie kümmern sich nicht um regelmäßige Mahlzeiten, um passende Kleidung, sie achten nicht darauf, ob die Kinder pünktlich aufstehen oder überhaupt zur Schule gehen. Sie haben keine Ahnung, wo die Kinder sich tagsüber und manchmal sogar nachts herumtreiben. Und es ist ihnen auch egal.«
    Ihre Unsicherheit war jetzt verflogen. Sie hatte sich in Rage geredet.
    »Wenn aber Vater und Mutter vorhanden sind, dann ist der Vater, meistens jedenfalls, der Hauptgrund für die Probleme. Diese Männer … Sie trinken. Oder nehmen Drogen. Sie schlagen die Kinder. Oder missbrauchen sie.« Ihre Stimme war plötzlich wieder leiser geworden. Ich stellte den Pegel höher. »Oder sie schlagen und missbrauchen sie. Und die Mütter« – ich fuhr den Pegel hastig herunter – »tun nichts, um ihre Kinder zu schützen. Weil sie genauso …« Sie brach abrupt ab. Offenbar wurde ihr bewusst, wie hasserfüllt sie sich anhörte.
    Sie stand auf und ging ans Fenster. »In Ihren Ohren klinge ich vermutlich sehr herzlos, nicht wahr? Aber das bin ich nicht. Ich weiß, dass diese Frauen selbst in ihrer Kindheit Schweres durchgemacht haben. Zumindest viele von ihnen. Dass sie es nicht besser verstehen. Aber wenn man so hautnah miterlebt, wie die Kinder darunter leiden … welche Folgen das für sie hat …«
    Ich bat sie, sich wieder hinzusetzen.
    »Ach so, das Mikrophon«, sagte sie und lächelte etwas unbeholfen. Sie rückte den Stuhl an den Tisch und nahm einen Schluck Wasser.
    »Meine Kleine …« Sie schüttete leicht den Kopf. »Mein Gott, ich nenne sie ständig ›meine Kleine‹. Aber meine Kleine, das ist doch mein kleines Mädchen!« In ihren Augen schimmerten Tränen. Sie gab sich einen Ruck, schnäuzte sich und setzte wieder dieses hilflose Lächeln auf. »Also, die kleine Tamara, so heißt das Kind, das ich in Obhut hatte, war, als sie zu mir kam, Bettnässerin. Sie hatte an beiden Armen Narben. Von Zigaretten.« Sie sah mich herausfordernd an. »Von Zigaretten, die ihr Vater an ihr ausgedrückt hatte.«
    Ich nickte. Ich habe lange genug zu dem Thema gearbeitet. Ich kenne so ziemlich alle Varianten von Kindesmisshandlung und Kindesmissbrauch. Ich habe Fotos gesehen von einjährigen Babys, deren Unterleib eine einzige schwarze Wunde war, weil Männer versucht hatten, in sie einzudringen. Ich habe wochenlang für ein Feature über Kinderpornografie recherchiert. Dann habe ich alles hingeschmissen, weil ich es nicht mehr ertragen konnte. Ich konnte die Bilder nicht mehr sehen. Sie taten mir körperlich weh.
    Ich riss mich aus den Gedanken. Frau Grimme sagte gerade: »Und sie war sehr, sehr aggressiv. Sie hat Sachen kaputt gemacht, von denen sie wusste, dass sie wertvoll waren. Dass sie mir wertvoll waren. Ich sah dieses Kind, das man so gequält hatte, ich war voller Mitleid, und dann nahm dieses Kind eine Wedgwood-Vase aus der Vitrine und warf sie auf den Boden. Und sah mich dabei an. Als wollte sie sagen: ›Na, los, schlag mich!‹«
    Sie strich mit den Händen über die Tischplatte. Hin. Und her. Ich hoffte inständig, dass sie damit aufhörte, denn sonst konnte ich das Gesagte nicht gebrauchen. Kein Tontechniker würde mir das abnehmen. Vielleicht gibt es doch so etwas wie Gedankenübertragung, jedenfalls hielt sie die Hände wieder still. »Sie hat meine Gesichtscremes und mein Make-up aus den Tuben gedrückt und den Spiegel im Badezimmer

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