Endstation Nippes
damit verschmiert. Sie hat … sie hat ihren Kot … Ach, egal. Das ging vorüber. Es ist mir schlussendlich gelungen, ihr einerseits zu zeigen, wo für mich die Grenzen sind, und sie andererseits spüren zu lassen, dass ich sie mag. Dass ich ihr niemals wehtun werde.«
Sie biss sich ein Stücken Nagelhaut ab und betrachtete die kleine Wunde, die sie sich dadurch zugefügt hatte. Dann legte sie beide Hände in den Schoß und lehnte sich zurück.
»Und es ist mir gelungen, aus diesem wilden kleinen Tier einen kleinen Menschen zu machen.« Sie lachte auf. »Stellen Sie sich vor: Nachdem sie ein Jahr bei mir war, wünschte sie sich ein Kleidchen! Ein richtiges schönes helles Kleid!«
»Na, wenn das kein Zeichen für eine gelungene Resozialisierung ist«, dachte ich bösartig. Aber ich lächelte ihr freundlich zu und stellte endlich die Frage, die mir schon lange auf den Lippen lag: »Ich dachte immer, nur Ehepaare dürfen Pflegekinder aufnehmen. Ich wusste nicht, dass das auch Alleinerziehende können.«
Der Blick, den ich dafür erntete, war nicht gerade freundlich.
»Da haben Sie im Prinzip völlig recht, Frau Leichter.« Ihr Tonfall verlagerte sich aus Lindenthal in die Marienburg. »Als wir unser erstes Pflegekind annahmen, war mein Mann noch hier. Aber dann erhielt er das Angebot von Stanford. Die Gastprofessur läuft in einem Jahr aus, und bis dahin mache ich alleine weiter. Mit dem Einverständnis des Jugendamtes.«
»Ja natürlich«, versuchte ich zu beschwichtigen. »So habe ich das nicht gemeint, Frau Grimme. Ganz im Gegenteil. Ich bin zum Beispiel nicht verheiratet, und ich bin einfach davon ausgegangen, dass man mir deshalb kein Pflegkind anvertrauen würde. Selbst wenn ich bestens dafür geeignet wäre. Und das hätte ich schade gefunden.«
Sie glaubte mir. Gott sei Dank, denn ich war mit dem Interview noch nicht fertig.
»Was ist denn mit dem kleinen Jungen, den Sie jetzt in Pflege haben?«
Sie sah mich an, als hätte ich Chinesisch geredet. Dabei würde ich, wenn schon, Tibetisch sprechen.
»Sie sagten doch, der sei schwersttraumatisiert?«
»Sagte ich das?«
»Ja«, versuchte ich sie zu erinnern, »als wir bei Campi draußen saßen.«
»Ich wundere mich nur, dass ich das überhaupt angesprochen habe. Wenn ich zu einem Kind erst noch Vertrauen aufbauen muss, rede ich nicht darüber. Noch nicht einmal mit meinem Mann.« Kleines ironisches Lächeln. »Das lenkt mich ab. Es zerstreut meine Energien, ich … Ich kann es nicht besser ausdrücken.« Sie dachte eine Weile nach. »Ich muss dann ganz bei dem Kind sein, auch innerlich, all meine Energie in die Arbeit mit dem Kind bündeln. Wenn ich mit anderen darüber spreche, ist es so, als würde etwas von dieser Energie, dieser Konzentration abfließen. Ist das verständlich?« Sie sah mich fragend an.
Ich nickte.
»Es klingt so esoterisch. Aber es ist etwas ganz Handfestes. Der Junge wurde sexuell missbraucht. Er verfällt manchmal in Zustände, die nahe an einer Katatonie sind. Er weigert sich konsequent, mit dem Psychologen zu sprechen. Er weigert sich, überhaupt zu sprechen. Das Einzige, was er, jetzt, endlich, nach langen Anläufen, zulässt, ist, dass ich ihn ganz vorsichtig in den Arm nehme. Dass ich ihm, wenn er schon in seinem Bettchen liegt, eine Geschichte vorlese. Und dann ganz, ganz leicht und nur ganz kurz seine Hand berühre.« Sie fuhr sich durch das Haar. »Jetzt habe ich doch darüber gesprochen.«
»Aber braucht der Junge nicht auch eine fachliche Hilfe? Zusätzlich zu Ihrer Fürsorge und Zuwendung?«, fragte ich, bemüht, sie nicht wieder zu verletzen.
»Doch, natürlich. Aber die Sachbearbeiterin im Jugendamt und auch der Psychologe von ›Zartbitter‹ meinen, es wäre besser, ihm Zeit zu lassen. Man kann so einem Kind eine Therapie nicht aufzwingen.«
Ich war nicht ganz überzeugt. Wenn das ein guter Psychologe war, dachte ich, dann würde er doch sicher nichts überstürzen. Aber trotzdem den Jungen sehen wollen. Ich beschloss, bei »Zartbitter« nachzufragen, wie die das handhabten.
Sie stand auf.
»Darf ich ihnen noch eine letzte Frage stellen, zum Thema Pflegeeltern ganz allgemein?«, bat ich hastig.
»Wenn es wirklich sein muss?«
»Es dauert nicht lange«, versprach ich.
Sie setzte sich wieder hin und sah mich plötzlich an, als sei ihr endlich die lang ersehnte Idee zu was auch immer gekommen. Dann sah sie ertappt zu Boden und murmelte: »Hätten Sie noch ein Glas Wasser für mich? Ich muss eine Tablette
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