Endstation Nippes
Sachbearbeiterin im Jugendamt, sondern die Familienhelferin, die das Jugendamt für Ihre Nichte und Ihren Neffen eingesetzt hat, und …«
»Tante Nele, ich muss auch Pipi!« Chantal presste die Beine zusammen und starrte auf den Boden. Hätte sie einen von uns angeguckt, sie hätte das Lachen vermutlich nicht mehr zurückhalten können.
»Herr Schulz«, sagte ich in einem, wie ich fand, gelungen sanft-autoritärem Ton, »wir sind nicht Ihre Gegner. Wir, das heißt ich und das Jugendamt, sind auf das Wohl der Kinder bedacht. Und ich gehe davon aus, das sind auch Sie?«
Hotte ignorierte mich. Wandte sich an Chantal: »Wann geht jetzt eure Mum in die Therapie?«
»Nächste Woche.«
Nele reichte Hotte die Plastiktüte. »Da is was zu essen drin. Jetzt lass uns schon rein!«
Hotte öffnete endlich die Tür. »Und du verpiss dich!«, rief er der Nachbarin zu. »Hier gibt’s nix zu sehen!«
»Dem«, tönte sie in meine Richtung zurück, »würde ich keine Kinder nich geben.«
Hotte ging in Kampfposition, aber Nele zog ihn in die Wohnung: »Komm, die Pänz haben Hunger!«
Nele warf sich auf das Sofa und lachte.
»Pst!«, warnte Chantal, »nicht so laut, die hört dich sonst.« Dabei sah sie so zufrieden aus wie Rosa, wenn sie mir mal wieder den Parmesan von den Spaghetti geleckt hatte.
»Und was mach ich, wenn die Kuh jetzt beim Jugendamt anruft und nachfragt, wieso die die Pänz zu mir lassen?«, fragte Hotte. »Wo ich doch kriminell bin?« Auch er hatte ein zufriedenes Lächeln in den Augen. Offenbar hatte ihm unsere Showeinlage gefallen.
»Och Hotte«, frotzelte Nele, »du bist doch ‘n super Opi!«
»Halt den Rand«, gab Hotte zurück und schob zwei von meinen Pizzas in die Mikrowelle. Mehr passten nicht rein, Hotte war alleinstehend.
Chantal verschwand mit Marco im Badezimmer. Kam wieder raus, kramte in dem großen Kleiderschrank im Flur und kehrte, eine kurze Hose, ein Unterhemdchen und eine Unterhose in der Hand, ins Bad zurück. Hotte nickte traurig. Sagte schließlich: »Ich hab ihm was Wäsche gekauft. Und paar Klamotten. Das passiert ihm paarmal am Tag.« Er langte nach seinen Kippen. »Ich bring die um. Alle. Einzeln. Die Fotze und die Kerle.«
Als die Kinder wieder in das Wohnzimmer kamen, setzte sich Marco in der Ecke hinter dem Fernseher auf den Boden, Knie angezogen, Arme darum geschlungen, Augen geschlossen. Ich nahm zum ersten Mal bewusst wahr, wie dünn der Junge war. Mir fiel ein, dass ich noch nicht bei »Zartbitter« angerufen hatte. Und morgen war Samstag. Wieder hatte ich das Gefühl, dass mir das alles über den Kopf wuchs. Der Schmerz und die Verstörung des Jungen, meine Hilflosigkeit und meine Angst um ihn, meine Sorge um Chantal, diese Kinderleiche … Loslassen, sagte ich mir. Entspann dich, Leichter! Dann siehst du klarer.
Das »Pling!« der Mikrowelle riss mich aus den Gedanken. Hotte stellte den Kindern ihre Pizzas auf den Tisch und schob zwei weitere rein. Ich beschloss, meinen Asia-Wok zu Hause zu essen, ich musste noch zu viel erledigen, um hier weiter rumzuhängen.
Hotte hielt gerade irritiert die Packung hoch: »Was das denn?«
»Meins«, erwiderte ich, »das nehm ich mit.«
»Schmeckt das?«
»Ja.«
»Wo gibt’s das denn? Im REWE ?«
»Mhm.«
Er schien echt interessiert. Ich sagte ihm, dass ich am Samstag in der Eifel sein würde, fasste kurz noch mal zusammen, was ich vorhatte, und beschwor ihn, die Kinder nicht rauszulassen.
»Alles klar«, meinte er bloß. Schob dann aber hinterher: »Die Frau da, vom Kalle, kenn ich die?«
»Keine Ahnung. Die hat auf der Brühler angeschafft.«
»Schon wat älter?«
»Ja, die ist jetzt sozusagen in Rente.«
»Hertha …« murmelte Hotte, »Frag se mal, ob se die Sandi kennt. Vom Eigelstein.«
»Mach ich.« Wir vereinbarten, dass ich Montag früh, gleich nachdem ich Tina Gruber erreicht hätte, wiederkommen würde.
Nele wollte noch bleiben, um die Pizza zu essen. Sagte sie. Mein Instinkt sagte mir: Es ging ihr nicht um die Pizza. Hotte war zwar an die fünfzehn Jahre älter als sie, aber nicht unattraktiv. Und ich hatte den Eindruck, dass das Interesse durchaus gegenseitig war. Ich zwinkerte ihr zu, woraufhin sie empört die Backen aufblies. Also hatte ich richtig geraten.
Ich verabschiedete mich von den Kiddies und legte Chantal kurz die Hand auf die Schulter. Marco anzufassen wagte ich nicht. Er zerfledderte die Pizza mit den Händen und schob sich riesige Stücke in den Mund, Speichel lief ihm aus dem Mund, er
Weitere Kostenlose Bücher