Endstation Nippes
sah aus wie ein halb verhungertes Tier.
Zu Hause angekommen griff ich mir das Grimme-Notizbuch, ging damit in den Copyshop und kopierte alle Seiten doppelt durch. Danach setzte ich mich an den PC und schrieb eine Erklärung, in der ich berichtete, wie ich an diese Texte gekommen war. Steckte jeweils einen Pack Kopien zusammen mit der Erklärung in Umschläge, klebte sie zu, schrieb auf den einen: »Manuskript WDR « und legte ihn in die Schublade und adressierte den anderen an meine Freundin Mary. Dann holte ich den ausgehöhlten Krimi, in dem ich mein Dope bunkere, aus dem Regal. Wickelte das Original-Notizbuch in den Ausdruck der Erklärung, legte es in die Aushöhlung, klappte den Krimi wieder zu und stellte ihn zurück. Auf die Art hatten wir schon vor zig Jahren unsere Drogen versteckt, und solange die Bullen nicht mit Hunden aufgekreuzt waren, hatte es immer geklappt. Danach lief ich zur Post und gab den Umschlag für Mary als Einschreiben mit Rückschein auf.
Dann machte ich mir den TK -Asia-Wok warm und öffnete Rosa eine Dose, was mir schrilles Protestgeschrei, gefolgt von dunklem Knurren, einbrachte. Das Fertiggericht war tatsächlich essbar, aber satt wurde ich davon nicht. Ich legte die Beine auf den anderen Stuhl, zündete mir eine Zigarette an und versuchte, über Sehnsucht nachzudenken. Darüber wollte ich meine nächste Sendung machen, nach der über die Pflegemütter, aber nun musste ich sie ja vorziehen. Irgendwo, fiel mir ein, hatte ich noch den alten Wälzer von James Hilton über Shangri-La herumliegen, der doch sicher für ein paar schöne Zitate gut war. Ich fand ihn sogar, blies den Staub ab und hatte plötzlich Lust, das Buch richtig zu lesen, und nicht nur auf der Suche nach geeigneten Stellen. Ich hatte es mir vor Jahren gekauft, als ich dachte, es ginge darin um tibetischen Buddhismus. Tut es nicht, aber es ist trotzdem eine schöne Geschichte.
Als das Telefon klingelte, ging ich direkt dran, aus Angst, es könnte etwas mit den Kindern sein. Es war aber Paul, der wissen wollte, wann er am Samstag vorbeikommen sollte. Und plötzlich wusste ich, ich brauchte jede Hilfe, die ich kriegen konnte.
»Paul«, sagte ich, »kann ich bei dir vorbeikommen? Jetzt gleich? Ich muss dir etwas erzählen, es ist wirklich wichtig, und ich brauche deine Hilfe.«
»Was ist passiert?«, fragte er alarmiert.
Mein großer Bruder unterstellt mir seit meinem sechzehnten Geburtstag, dass ich alle mögliche Scheiße baue und mich damit in die Bredouille bringe. Was ja, zugegeben, oft genug der Fall war. Aber inzwischen bin ich erwachsen. Und Dharma-Praktizierende. Was Paul allerdings nicht für etwas Seriöses hält.
»Es geht nicht um mich«, versuchte ich ihn zu beruhigen.
»Geht es um deine Junkie-Freundin?«
»Sie heißt Nele«, fauchte ich. »Und mit ihr ist alles in Ordnung. Kann ich jetzt kommen oder nicht?«
Er gewährte mir einen Termin. Ich holte den Krimi mit dem Grimme-Notizbuch wieder aus dem Regal, steckte ihn in den Rucksack und machte mich auf den Weg. In Pauls Anwaltspraxis gibt es einen Safe. Ich habe keine Ahnung, was er darin aufbewahrt, denn er hat kein Geld, geschweige denn Wertpapiere. Mal abgesehen davon, dass er für die inzwischen keinen Safe mehr bräuchte. Aber mein brisantes Fundstück wäre darin sicherer aufgehoben als in meiner Wohnung. Seit die im letzten Winter durchsucht wurde, bin ich vorsichtig geworden.
Auf dem Rückweg kaufte ich einen Teddy. Fuhr bei Hotte vorbei und hatte Glück, er war da.
»Ich hab was für Marco«, sagte ich.
»Komm rein, magste ‘n Kaffee?«
Ich schüttelte den Kopf und folgte ihm ins Wohnzimmer. Die Kinder sahen sich einen Zeichentrickfilm an. Sie trugen neue Klamotten und wirkten, als kämen sie gerade aus der Dusche. Was vermutlich auch der Fall war. Chantal hatte die nassen Haare glatt nach hinten gekämmt, an Marcos Wuschelkopf hatte sich offenbar Hotte als Friseur versucht. Er selbst wirkte auch irgendwie frisch gewaschen und gebügelt. Das Ganze roch nach: Wir fangen jetzt ein neues Leben an. Ich setzte mich neben die Kids auf das Sofa und hielt Marco den Teddy hin.
»Guck, der ist für dich!«
Marco rührte sich nicht. Betrachtete schweigend das Geschenk, wandte sich dann wieder dem Fernseher zu. Ich war enttäuscht. Ich hatte so sehr gehofft, ich könnte ihm eine Freude machen. Also setzte ich den Teddy auf das Sofa und bog seine Beinchen zurecht.
»Ich lass ihn einfach hier, ja? Er gehört jetzt dir.«
»Kann ich ‘ne Kippe
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