Endstation Nippes
Jugendamt sich querstellt, musst du mir da helfen. Der Kleine geht endgültig vor die Hunde, wenn die ihn wieder in eine Pflegefamilie stecken. Auch wenn das diesmal noch so gute Leute wären. Der könnte das gar nicht wahrnehmen, was das für Leute sind. Pflegefamilie heißt für ihn: grausam missbraucht werden.«
Ich zündete mir eine Zigarette an, warf Tina Gruber einen entschuldigenden Blick zu und stellte mich an das offene Fenster.
»Und genauso schlimm«, fuhr ich fort, »wäre es für ihn, wenn er in ein Heim kommt, denn aus dem Heim haben sie ihn zu der Grimme gebracht. Das geht nicht, Tina. Hörst du mich? Man muss gucken, dass er irgendwann eine Psychologin oder einen Psychologen an sich ranlässt. Jemanden, der ihm wirklich helfen kann. Aber das muss in einer Umgebung passieren, in der er sich halbwegs sicher fühlt. Und das ist bei Hotte und sonst nirgendwo. Er muss auch mit Chantal zusammenbleiben können. Mal davon abgesehen, dass die ohnehin nirgends bleiben würde, wo sie auf den Kleinen nicht achtgeben kann.«
Tina nickte zögernd.
»Weißt du«, ich merkte, wie mir die Wut hochkam, »dieses zwölfjährige Mädchen hat den Kleinen aus der Hölle befreit. Sie und sonst niemand.« Ich sah Chantal vor mir, mit ihrer Baseballkappe, ihren löchrigen Jeans, ihren Piercings, ihrer großen Klappe, und schüttelte den Kopf, staunend über den Mut und die Feinfühligkeit dieses Kindes.
Tina sah mich fragend an.
»Chantal ist großartig«, sagte ich. »Und bei Hotte sind die beiden wirklich gut aufgehoben.«
»Bis er wieder im Knast sitzt.«
»Der fährt nicht mehr ein. Wenn der die Kinder hat, macht er nichts mehr.«
»Vielleicht bist du da jetzt ein bisschen naiv, Katja?«
»Glaub ich nicht. Ich hab ihn kennengelernt.«
»Gut, dann werde jetzt ich ihn kennenlernen. Und was die Kinder betrifft: Das kann ich leider nicht entscheiden.«
»Aber ist dir wenigstens klar, was ich meine? Warum der Marco das nicht packt, wenn der jetzt wieder in ein Heim kommt oder gar in eine Pflegefamilie?«
»Ich verstehe, was du meinst, ja. Aber ich denke, der Junge braucht vor allem eine fachliche Betreuung.«
»Klar, aber von außen. Leben muss er bei Hotte.«
»Wir gehen da jetzt erst mal hin, Katja, ja? Und ich versuche, zu dem Jungen einen Kontakt aufzubauen.«
»Vergiss es. Der redet mit niemandem. Der hat nicht mal Chantal erzählt, was die mit ihm gemacht haben.«
»Ich muss ihn aber sehen. Und deinen geliebten Hotte kennenlernen.«
Hotte stand in der geöffneten Wohnungstür. Die Haare hingen ihm wirr auf die Schultern, der ganze Mann war ein Bild der Verzweiflung.
»Sie sind weg.«
»Wie, weg?«, fragte ich sinnloserweise.
»Weg. Fott!«
»Dürfen wir reinkommen?« Tina streckte ihm die Hand hin. »Ich bin Tina Gruber. Kriminalpolizei, Mordkommission.«
Er ignorierte sie, deutete aber Richtung Küche und schloss die Tür hinter uns. Mir war schlecht. Am liebsten wäre ich sofort losgerannt, um die Kids zu suchen. Auf dem Tisch stand ein voller Aschenbecher, der ganze Raum war voller Qualm. Ich öffnete das Fenster, leerte den Aschenbecher, wischte ihn aus und stellte ihn wieder auf den Tisch. Hotte lehnte an der Spüle und starrte die gegenüberliegende Wand an.
»Was genau ist passiert, Herr Schulz?«, fragte Tina.
Hotte sah mich an, als er antwortete: »Ich bin nach Hause gekommen, jetzt grade eben, und die waren nicht mehr da. Die haben mein Handy mitgenommen, ich konnt dich nicht anrufen, und dann hab ich erst mal was gewartet, dass du kommst. Und sie da.« Er deutete mit dem Kinn zu Tina. »Aber jetzt wollt ich losgehen, die suchen.«
Er kramte sein Tabakpäckchen aus der Hosentasche, sah, dass es leer war, und warf es in den Müll. Ich bot ihm eine von meinen an.
»Was meinste denn, warum sie weg sind?«
Er ging ein paar Schritte auf und ab. Lehnte sich schließlich wieder an die Spüle. »Gestern Abend. Da war’s noch schlimmer wie sonst. Da hat er sich nicht bloß in die Hosen gemacht, da war das Dünnschiss. Das hat gestunken wie Sau. Ich hab gedacht, der stirbt mir jetzt vor lauter … Der hat sich so geschämt.« Hotte schüttelte den Kopf und zog an der Zigarette. Nach einer Weile sprach er weiter. »Ich konnte das nich der Chantal überlassen, ne?« Zum ersten Mal sah er Tina an. »Die hat ihn sonst immer sauber gemacht, weil, der hat sonst keinen an sich rangelassen, der Marco.«
Er langte nach der Thermoskanne. »Wollter ‘n Kaffee? Da is noch welcher drin.«
Wir verneinten
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