Endstation Nippes
mich in ihr Büro rief, hatte ich gerade beschlossen, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu sagen. Abgesehen von meiner Verpflichtung auf das Bodhisattva-Gelübde gab es auch, soweit ich das sehen konnte, keinen Grund, etwas zu verbergen.
Ich verabschiedete mich von Hotte und Chantal, die nach Hause fuhren. Hotte versprach, Nele und Hertha zu informieren. Er wirkte beunruhigt.
Bevor Tina loslegen konnte, fragte ich aber erst einmal sie, was sie über den Mord an der Grimme wusste. Sie sah mich lange an, dann murmelte sie etwas von wegen, sie dürfe mir keine Informationen geben. Ich gab ihr mit einem entsprechenden Blick zu verstehen, dass mir diese Formalie sonst wo vorbeiging.
Sie seufzte. Fummelte an einer Akte herum, die sie auf dem Tisch liegen hatte. Schließlich sah sie mich sehr ernst an und sagte: »Katja, es gibt ein Problem.«
Ich hob fragend die Augenbrauen.
Tina verfiel wieder in Schweigen. Ich begann, mir Sorgen zu machen, obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, worauf sie hinauswollte.
Schließlich sagte sie leise: »Frau Grimme wurde erstochen. Mit ihrem eigenen Küchenmesser. Die Untersuchung ist noch nicht abgeschlossen, aber die Pathologin sagt, es waren achtzehn Stiche, und zwar so, als habe jemand mit sehr wenig Kraft sehr wütend zugestochen.«
Ich fuhr mit einem Ruck im Stuhl hoch und stemmte mich mit den Händen am Tisch ab.
»Warte!« Tina machte eine beschwichtigende Geste. »Sie sagt, einer der Stiche wurde aber mit großer Kraft ausgeführt und hat sie wahrscheinlich sofort getötet. Die Pathologin vermutet, dass das der erste war und die anderen post mortem, also danach, hinzugefügt wurden. Dazu muss sie die Leiche aber erst mal richtig untersuchen. Ich hoffe, sie kann mir noch im Laufe des Tages mehr sagen.« Sie schwieg einen Moment, musterte mich prüfend und fuhr schließlich fort: »Das kann bedeuten, der Mörder wollte den Eindruck erwecken, dass Marco sie getötet hat.« Wieder ein kurzes Schweigen. »Und das kann alles Mögliche bedeuten. In jedem Fall aber ist Marco in großer Gefahr. Dieser Mann, wenn es ein Mann ist, hat einerseits raffiniert gehandelt und andererseits auch wieder dumm. Er hätte sich ja denken können, dass auf der Pathologie herauskommt, wie er vorgegangen ist. Oder er hält er uns für völlig bescheuert.«
»Der Arzt«, murmelte ich.
»Welcher Arzt?« Jetzt setzte Tina sich ruckhaft auf.
»Hotte hat uns doch erzählt, wie der Kleine gestern Abend ausgeflippt ist. Und zwar nachdem er zu ihm gesagt hat: ›Marco, du musst zum Arzt. Ich bring dich morgen zum Arzt.‹ Da war bei dem alles vorbei. Und am nächsten Tag war er weg.«
Tina sah mich skeptisch an. »Ich weiß nicht. Gerade einem Arzt ist doch klar, was auf der Pathologie passiert. Dass er mit so einem Trick nicht durchkommt.«
Das war ein Argument. Aber mir fiel noch etwas ein: »In dem Büchlein von der Grimme, da steht, einer der Männer hätte gesagt, man könne den Jungen bald nicht mehr zusammenflicken. Guck dir die Stelle an! Und dann sagt der Hotte: ›Du musst zum Arzt, Marco‹, und der Kleine rastet vollends aus. Und haut ab.«
Tina wirkte noch immer nicht überzeugt. Meinte aber, sie würde sich das durch den Kopf gehen lassen. Dann stellte sie das Aufnahmegerät an.
Ich berichtete ihr haarklein, wie ich Frau Grimme kennengelernt, welchen Eindruck ich von ihr gehabt und was sie mir alles erzählt hatte. Versprach, Tina eine CD mit dem Interview zu brennen, das ich mit der Grimme geführt hatte. Als ich fertig war, fragte ich: »Und was wird jetzt mit den Kids? Die müssen bei Hotte bleiben, Tina. Und du musst das mit dem Jugendamt regeln.«
Sie schüttelte den Kopf. »Also erstens, Katja, es ist nicht so, dass ich dem Jugendamt Vorschriften machen könnte, ja? Und zweitens: Ich kann nicht befürworten, dass ein verstörtes und vermutlich auch gestörtes Kind bei einem mehrfach vorbestraften Einbrecher lebt.«
Ich starrte sie fassungslos an. »Okay. Und ich kann ein Kind, das auf unbeschreibliche Art gequält wurde, und zwar in der Obhut seiner« – ich spuckte das Wort hohntriefend in ihre Richtung – » Pflegemutter , an die es vom Jugendamt vermittelt wurde …« Ich verlor kurzfristig den Faden, fuhr dann aber wutschnaubend fort: »Ich kann nicht zulassen, dass dieses Kind gnadenlos weiter traumatisiert wird und womöglich einen irreparablen Schaden erleidet, nur weil euch der einzige Mensch, dem dieses Kind halbwegs vertraut, nicht passt. Ja klar, so ein
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