Endstation Nippes
Viereinhalb?«
»Mach dich vom Acker, Mädchen. Bevor ich richtig sauer werd.«
Ich setzte mich ihr gegenüber an den Tisch. »Hertha, die Nele ist nicht in Urlaub. Die ist in der Entgiftung. Die macht Entzug. Da hast du Krämpfe, da kannst du nicht schlafen, da tut dir alles weh, da kriegst du Depressionen, da sitzt du rum mit Leuten, die du zum Teil nicht leiden kannst, und hoffst, dass dich jemand anruft. Jemand, den du magst. Der dich mag.«
Das Wasser kochte. Ich goss den Kaffee auf. Brachte ihn samt zwei Tassen und Zucker an den Tisch. Die Milch hatte ich vorhin weggeschüttet.
»Der Einzige, der sie anruft, ist Hotte. Ich hab keine Zeit, weil ich ständig mit der Horrorgeschichte zugange bin oder mit Chantal. Und du bockst. Und Nele sitzt in Düren und denkt, keiner will mehr was von ihr wissen. Die hängt an dir. Du bist einer der allerwichtigsten Menschen auf der Welt für sie. Und das weißt du ganz genau. Wenn du dir nicht das Hirn mit Grappa und Dope vernebelst.«
»Biste jetzt durch mit deiner Predigt?«
Ich seufzte. Sie sah so zum Gotterbarmen elend aus. »Hertha, ihr hockt beide da, und jede denkt, die andere hat sie vergessen oder will nichts mehr von ihr wissen. Und beiden tut euch das total weh. Nele will zu dir zurückkommen nach der Therapie. Aber wenn sie jetzt nichts mehr von dir hört, dann denkt sie, du willst sie nicht mehr haben. Die ist auf Entzug, Hertha! Der geht’s grade echt schlecht. Ruf sie an. Bitte!«
»Laber, laber, laber.«
»Okay, mach, was du meinst.«
Ich stand auf und ging zu mir hinüber. Schrieb die Telefonnummer von Neles Station in Düren auf einen Zettel und brachte ihn Hertha. Sie saß noch immer am Tisch und stierte in ihre Kaffeetasse.
Und jetzt?, dachte ich. Ich fühlte mich wie im sprichwörtlichen Auge des Orkans, um mich herum tobte der Sturm, und ich stand mittendrin völlig gelähmt. Ich hatte mich, dämmerte mir langsam, vollkommen überschätzt. Wenn eine Polizeikommissarin nicht gegen einen Staatsanwalt ankam, wie wollte ich das schaffen? Ich wusste ja nicht einmal mit Sicherheit, ob Mr. Völcker in die Grimme-Geschichte verwickelt oder ob er einfach nur ein ignorantes und inkompetentes Arschloch war. Und wie sollte ich diesen Arzt ausfindig machen? Wenn es überhaupt ein Arzt war. Zusammenflicken hätte Marco auch ein Pfleger können. Oder ein Heilpraktiker. Oder ein Sanitäter. Oder, oder, oder, äffte ich mich im Geiste selber nach.
Ich stellte mich ans Fenster und sah hinüber zu den Nachbarhäusern. Die hatten Balkons und darauf die interessantesten Gewächse. Von Tomaten über Kletterrosen bis zu zarten Cannabispflänzchen. Rosa sprang auf das Fensterbrett, rieb sich an meinem Arm und schnurrte.
»Meine Süße«, flüsterte ich ihr ins Ohr, »meine süße, tolle, wilde Tigerin!« Sie schnurrte lauter. Ich streichelte sie mit einer Innigkeit wie schon lange nicht mehr. Plötzlich stellte sie die Ohren auf und gab ein tiefes Knurren von sich. Ging über zu wütendem Fauchen. Fiel vor Aufregung fast aus dem Fenster. Tief unter uns, unerreichbar für meine wilde Tigerin, spazierte eine fette graue Katze über den Hof. Unseren Hof! Ich hob Rosa, die sich mit allen vieren dagegen wehrte, hoch, setzte sie auf dem Boden ab und stellte das Fenster auf Kipp.
Dann setzte ich mich an den Schreibtisch und schrieb alles auf, was seit meiner ersten Begegnung mit Marco passiert war. Alles. Es wurde eine sehr lange Geschichte. Beim Schreiben klärte sich einiges in meinem Kopf. Aber am Ende war ich noch deprimierter als am Anfang. Meine einzige Chance, das war mir jetzt sonnenklar, war der Einbruch in Grimmes Wohnung. Falls ich da etwas fand, das uns weiterhalf. Und diesen Einbruch sollten wir so schnell wie möglich machen. Bloß wann? Es war Sommer, es war bis mindestens halb elf Uhr abends hell, wir konnten vermutlich erst um Mitternacht in das Haus rein. Wie bekamen wir Grimme so lange aus der Wohnung?
Als es an der Tür läutete, schaute ich erst einmal durch den Spion. Ich hatte beim Aufschreiben der Geschehnisse ein Gefühl von Bedrohung empfunden, das mir nun zu allem anderen auch noch zusätzlich Sorgen bereitete.
»Guck mal!«, sagte Chantal statt einer Begrüßung und hielt mir Sunny hin. Er trug ein Halsband mit Hundemarke.
»Wow, jetzt ist er also ganz legal«, erwiderte ich.
»Ja, und grade eben waren wir beim Jugendamt!«
»Und?«
»Ich darf beim Opa bleiben!«
»Super!« Ich führte sie in die Küche, und in dem Moment wusste ich: Das
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