Endstation Oxford
Estelle. Selbst nach einer Woche in der Gewalt der verrückten Frances hatte sie nichts von ihrem Kampfgeist eingebüßt. »Dürfte ich vielleicht hineinkommen?«, fragte Kate.
»Aber sicher.«
Estelle trat einen Schritt zurück und ließ Kate in ein kleines Wohnzimmer eintreten. Die einzige Lichtquelle hier war eine Deckenleuchte, deren ohnehin schwache Glühlampe noch durch einen braunen Schirm abgedunkelt wurde. Die Holzblenden, die Kate von draußen gesehen hatte, waren mit Schlössern gesichert, und die Luft roch abgestanden, obwohl in der kleinen Küchenzeile hörbar ein Ventilator arbeitete.
Sie setzten sich auf nicht zueinander passende braune Sessel mit abgenutzten hellen Kissen. Auch hier war die Tapete beigefarben. An den Fenstern hingen schlecht ausgemessene rostrote Vorhänge. Hinter einem dieser Vorhänge entdeckte Kate das Liberty-Tuch, das Estelle gefaltet und so weit in den Spalt geschoben hatte, dass man es von außen sehen konnte. Es war recht gut versteckt, sodass Frances Estelles ungewöhnlichen Hilferuf ganz offensichtlich noch nicht bemerkt hatte.
Estelle folgte Kates Blick. »Ich musste den Tisch ans Fenster ziehen und zusätzlich einen Stuhl daraufstellen, um meinen Schal dort in die Ecke zu stopfen«, sagte sie. »Wenn ich ihn je wieder dort herunterhole, taugt er höchstens noch zum Putzlumpen.«
»Aber zum elegantesten Putzlumpen von ganz North Oxford.«
»Nun erzählen Sie schon, was los ist. Wieso ist die Polizei noch nicht da? Und wo bleibt Peter? Der arme Mann ist bestimmt schon außer sich vor Sorge.«
Kate dachte einen Moment nach. Wie sollte sie Estelle auf möglichst diplomatische Weise beibringen, was passiert war?
»Es ist leider so, dass ich mich in der gleichen Situation befinde wie Sie. Als ich hierherkam, dachte ich, es wäre niemand im Haus. Aber Frances wartete bereits mit einem Messer auf mich, schubste mich ins Haus, und da bin ich nun. Eingesperrt, genau wie Sie.«
»Sie machen immer den gleichen Fehler, Kate. Sie denken vorher nicht nach und geraten so in schwierige Situationen. Sie hätten jemanden bei sich haben müssen, der Ihnen den Rücken freihält. Hatten Sie aber nicht, oder?« Kate schüttelte den Kopf. »Das dachte ich mir. Weiß überhaupt jemand, dass Sie hier sind?«
»Nein. Allerdings gehe ich davon aus, dass Craig relativ schnell darauf kommen wird.«
»Wer ist Craig?«
»Ein Freund von Jon, der mir geholfen hat, Sie zu suchen.«
Estelles Gesicht verriet, wie wenig Vertrauen sie in diesen unbekannten Craig hatte. »Haben Sie wenigstens schon die Polizei informiert?«
»Nein.«
Estelle seufzte, was Kate für ziemlich unfair hielt. Immerhin war es schließlich Estelle gewesen, die eines schönen Samstagmorgens einfach verschwunden war, ohne eine Nachricht zu hinterlassen.
»Ich habe Ihren Schal da oben im Fenster gesehen und wollte dem nachgehen. Darüber habe ich mit Craig gesprochen, und deshalb bin ich sicher, dass er bald hierherkommen und nach mir suchen wird.«
»Wenn er sich dabei so dämlich anstellt wie Sie, erwischt Frances ihn möglicherweise auch noch. Männer haben doch keinen Durchblick, abgesehen vielleicht von Ihrem Jon. Halten Sie es für möglich, dass er sich in Kürze fragt, wo Sie sind, und uns zu Hilfe eilt?«
»Mit Jon habe ich leider nicht über meinen Plan gesprochen.«
Estelle seufzte theatralisch. »Ich denke, ich mache uns erst einmal eine Tasse Tee. So wie es aussieht, werden wir ja wohl noch eine Weile hierbleiben.«
Nachdem sie die Teekanne auf den braunen Couchtisch gestellt hatte, sagte Kate: »Nur, damit ich es richtig verstehe: Sie gingen am Samstag mit Austin Brande auf und davon, verließen ihn zwei Tage später und zogen zu Frances?«
»Ganz so war es nicht«, widersprach Estelle streng. »So wie Sie es ausdrücken, klingt es, als hätte ich in der ganzen Angelegenheit auch etwas zu sagen gehabt. Das stimmt aber nicht. Austin kam mit einer unglaublichen Geschichte über Peter zu mir. Angeblich sollte Peter Austins Großmutter um viel Geld betrogen haben. Ich glaubte ihm kein Wort, denn der Mann ist ganz offensichtlich ein ausgemachter Spinner. Allerdings beunruhigten mich ein paar kleine Details, die irgendwie wahr klangen. Wie konnte es sein, dass Peter, der seit Ewigkeiten ein uraltes Auto fährt, plötzlich einen fast neuen Wagen kauft?« Estelles Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel daran, was sie von Gebrauchtwagen hielt. »Oder auch die Sache mit unserem Urlaub. Ich schlug ihm ein exotisches
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