Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Endstation Rußland

Endstation Rußland

Titel: Endstation Rußland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natalja Kljutscharjowa
Vom Netzwerk:
der Brücke sprang, denn es war schon kalt.
    »Du brauchst mir nur zu sagen, wer dich beleidigt, und er wird von meinem Kuhfuß kosten!« Tremor erregte sich immer heftiger und rannte wie besessen nach Hause, wo in der Kammer die unheilvolle Waffe stand. Da Jajsa keine Ahnung hatte, was ein Kuhfuß war, vermutete sie naiv, Tremor spreche von einem Fußtritt. Der Kuhfuß erwies sich als eine starke Eisenstange mit spitzem Ende. Davon zu »kosten« war schwierig und vermutlich höchst unangenehm. Jasja wollte nicht, daß irgendwem etwas passierte.
    »Ich habe noch nie jemanden so geliebt wie dich!« fuhr Tremor mit seiner Serenade fort. »Bis auf ein Mädchen, als ich zwanzig war. Aber dann mußte ich sehen, wie sie bei einem anderen auf dem Schoß saß. Den Kerl hab ich mit Fußtritten die Treppe runterbefördert, und sie hab ich auf einen Hocker steigen lassen, ihr das Urteil verlesen und sie an einem Tonbandkabel aufgehängt.«
    »Das Urteil?« fragte Jasja verwundert, als gebe es in dieser Geschichte sonst weiter keinen Grund zur Verwunderung.
    »Ja, damit alles seine Richtigkeit hatte, habe ich geschrieben. ›Du Hure wirst wegen Verrats zum Tode verurteilt.‹ Das war natürlich dumm von mir. Wegen diesem Papier haben die Bullen sich stur gestellt, wollten nicht auf Affekt erkennen. Von wegen, im Affekt schreibt man kein Urteil und spielt Demokratie, da legt man den Betreffenden gleich um.«
    »Hast du lange gesessen?« erkundigte sich Jasja höflich.
    »Von wegen! Sie haben mich gar nicht erst eingesperrt. Das Kabel ist gerissen. Und diese Verräterin hat ein schlechtes Gewissen gekriegt, hat die Klage zurückgezogen und gesagt, sie hätte keinerlei Ansprüche. Wär ja auch noch schöner, wenn sie welche gehabt hätte, das elende Aas!«
    Tremor, total überhitzt, prügelte wütend auf eine Betonmauer ein und beruhigte sich erst, als seine Fäuste blutig gescheuert waren.
    Jeder andere an Jasjas Stelle wäre spätestens jetzt ins Grübeln gekommen. Aber so war Jasja nicht.
    Der Höhepunkt der Komsomolzenliebe ereilte sie in der Silvesternacht. Sie und Nikita hatten sich (natürlich auf ihre Initiative hin) wieder einmal »für immer getrennt«, und die stolze und freie Jasja war ins Wohnheim der pädagogischen Uni gegangen, um dort den wichtigsten Nationalfeiertag zu begehen.
    Gegen Morgen, als die meisten künftigen Lehrer bereits auf dem staubigen Boden lagen, tauchte auf der Schwelle der »Fummelbude« (so hieß ein unbewohntes Zimmer, in dem sich die Studenten vergnügten) Tremor auf. Er war blutüberströmt und konnte sich nur mühsam auf den Beinen halten, mit einer Hand umklammerte er eine Axt.
    »Du kommst mit mir!« knurrte Tremor, als er die traurig auf einem Fensterbrett sitzende Jasja erblickte. Das Liebeswerben des Komsomolzen war zu diesem Zeitpunkt bereits endgültig abgewiesen worden, und die Rotbannerhochzeit hatte ausfallen müssen.
    »Wohin soll ich gehen?« fragte Jasja neugierig.
    »IN DIE HÖLLE!« brüllte Tremor, der eine Schwäche für billige Effekte hatte, und schwang die Axt. Die Studenten schliefen sogleich noch fester als zuvor.
    »Was hast du denn da?« fragte Jasja in strengem Erzieherinnen-Ton. »Komm, zeig mal her!«
    Und da geschah ein Wunder: Tremor wurde augenblicklich friedlich und reichte Jasja widerspruchslos die Mordwaffe. Jasja schleuderte die Axt kaltblütig in eine studentenfreie Ecke und führte Tremor auf das berühmte Wohnheimklo – um ihm das Blut abzuwaschen und die aufgeschlitzten Venen zu verbinden. Tremor schlief gleich unterm Waschbecken ein, und am nächsten Morgen erinnerte er sich an nichts mehr. Jasja aber versöhnte sich wieder mit Nikita und erklärte, sie müsse »nach dieser Dostojewski-Nummer unbedingt nach Piter«. Sie liehen sich bei irgendwem Geld und fuhren in die Stadt Raskolnikows.
    Nikita begegnete Tremor danach nur noch einmal. Bei strömendem Oktoberregen. Ächzend und tief gebückt schleppte Tremor eine kleine Pioniertrommel durch die Gegend. Der grauhaarige Komsomolze war vollkommen entkräftet vom Kampf gegen den Imperialismus und vom endlosen einsamen Suff. Jeder Regentropfen brachte ihn ins Wanken, und es schien, als schreite der heldenhafte Irre nicht im Regen in die lichte Zukunft, sondern im Steinhagel. Zudem hatte der böse kapitalistische Wodka Tremors Magen völlig zerfressen, und der Komsomolze fiel immerwieder auf die Knie und kotzte Blut. So schlug er sich durch Dunkelheit und Unwetter, in einem blutbefleckten Mantel und mit

Weitere Kostenlose Bücher