Endstation Rußland
den Vorlesungen stellten besonders mutige Studentinnen ihm Fragen, die über den Rahmen des universitären Lehrplanes hinausgingen.
»Mein Freund und ich verstehen uns nicht richtig. Ich glaube, er ist nur wegen Sex mit mir zusammen, mein Innenleben interessiert ihn nicht«, sagte Rita aus dem erstenSemester, geschminkt wie für einen Bühnenauftritt, verschämt.
»Das Gefühl der allumfassenden Unaufrichtigkeit allen Geschehens«, konstatierte Roschtschin, wobei er seine Brille zurechtrückte und sich bemühte, nicht auf den Slip zu blicken, der aus Ritas Jeans mit dem allzu tief sitzenden Bund herausschaute. Das Mädchen nickte erfreut.
»Dieses Gefühl ist ganz typisch für die Konsumgesellschaft«, erklärte Roschtschin. »Im Kapitalismus kommt es nicht nur zur Entfremdung der Produktionserzeugnisse, sondern auch zur Entfremdung der Menschen voneinander, und das ist bedeutend schlimmer. Alles wird zur Ware, einschließlich Liebe, Freundschaft, Patriotismus, Kunst – sogar der Glaube! Ihr Freund ist ein typischer Konsument!«
»Und was soll ich tun?« fragte Rita erschüttert.
»Lesen Sie Kafka und Camus, da ist das alles sehr gut beschrieben. Wenn das nicht reicht, bringe ich Ihnen noch andere Bücher mit. Subkommandante Marcos zum Beispiel. Und ziehen Sie Ihre Jeans hoch, man sieht Ihre Unterwäsche. Ich denke, das schadet Ihrem Intimleben nicht weniger als der Kapitalismus«, sagte Roschtschin, der Provokateur, und die vertrauensselige Rita lieh sich in der Bibliothek Die Pest aus und kaufte sich keusche Jeans.
Nach den ersten zehn Seiten Camus beschloß Rita, ihr Leben radikal zu ändern, verließ ihren jungen Konsumenten, der sich nur für Sex interessierte, und verliebte sich bis über beide Ohren in Roschtschin.
Kraft ihrer unerwiderten Liebe bewältigte die arme Rita noch Die Verwandlung und den Prozeß (denn beide waren verhältnismäßig kurz), doch bei Guy Debord kapitulierte sie, versöhnte sich mit ihrem Freund und stieg wieder in Jeans, die gewisse für den intimen Gebrauch gedachte Details öffentlich zur Schau stellten.
In Roschtschins pädagogischer Praxis gab es noch einen weiteren amüsanten Fall, der mit Camus zu tun hatte. Ein blasser Jüngling, Student im ersten Jahr, kam plötzlich nicht mehr in die Uni. Alle dachten, er sei krank. Bis die besorgten Eltern des blassen Mischa im Dekanat anriefen und erklärten, wenn ihr kostbarer Sproß krank sei, dann handele es sich wohl um eine sehr merkwürdige Krankheit.
Er lag tagelang auf dem Sofa, starrte an die Decke und verweigerte jede Teilnahme am Leben. Äußerst besorgniserregende Symptome.
»Alles ist sinnlos …«, sagte Mischa mit einer Stimme voll unverstellter pubertärer Schwermut. Auf weitere Nachfragen antwortete er stets:
»Da unten auf dem Boden … Lest, dann werdet ihr verstehen … Wenn ihr überhaupt fähig seid, irgend etwas zu verstehen …«
Neben der Lagerstatt ruhte, von Staub und Spinnenweben überzogen, zwischen Nirwana-Kassetten und schmutzigen Socken der Schuldige an Mischas Trauer: Ein zerlesenes Exemplar des Fremden von Albert Camus. Die Eltern verlangten, der Literaturdozent, »der dem Jungen diesen Dreck aufgeschwatzt hat«, solle kommen und »etwas unternehmen«. Sonst würden die Eltern ihn verklagen. Und zwar sonderbarerweise wegen Verführung Minderjähriger. Intellektueller Verführung, konkretisierten sie.
Roschtschin wollte keine Probleme mit dem Gesetz. Obwohl die Rolle des »intellektuellen Verführers« ihm schmeichelte. Er ging den blassen Jüngling aus den Fängen des Existenzialismus befreien.
Mischa ruhte wie ein dahingeschiedenes Fräulein, die Hände auf der Brust gefaltet, und runzelte leidend die Stirn. Roschtschin setzte sich ans Kopfende und sprach Beschwörungsformeln wie Choma Brut.
Er begann mit Limonow, weil er dachte, dessen rasend infantile Texte könnten jeden aus der tiefsten Depression holen.
»Mir ist der Tod eines Helden beschieden, nicht der eines zufälligen Opfers oder eines betrogenen Liebhabers …«
Das existentialistische Fräulein regte sich drohend, richtete einen glühenden Blick auf Choma und sprach: »DARAN GLAUBE ICH NICHT!«
Roschtschin ließ Limonow rasch auf den verdreckten Fußboden fallen und wechselte zu Henry Miller.
»O Tania, wo ist jetzt deine warme Möse, diese dicken, schweren Strumpfbänder, diese weichen, üppigen Schenkel? In meinem Pint ist ein sechs Zoll langer Knochen.«
Roschtschin las so leise wie möglich, damit die heilsamen Worte
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