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Endstation Rußland

Endstation Rußland

Titel: Endstation Rußland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natalja Kljutscharjowa
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einer Trommel über der Schulter. Das verwundete und im Kampf ergraute Gespenst des kleinen Trommlers aus den alten sowjetischen Märchen.

12
    Roschtschin lernte Nikita in Piter kennen. Bei dem (erfolgreichen) Versuch, in einem Buchladen Die Gesellschaft des Spektakels zu klauen. Den Verkäufern, in ein Kreuzworträtsel vertieft, entging Nikitas gesetzwidrige Handlung, Roschtschin aber entging sie nicht, und er hieß sie gut. Der gebildet wirkende junge Mann folgte Nikita hinaus auf die Straße und sagte zu ihm: »Ein gutes Buch haben Sie da gestohlen.«
    Mit seinen fünfundzwanzig Jahren hatte Roschtschin schon eine beginnende Glatze, einen Doktortitel und eine halbjährige Tochter, Marja Jewgenjewna. Marja Jewgenjewna konnte sich schon herumdrehen und rollte über das Bett wie der dicke fette Pfannekuchen, und Roschtschin las Guy Debord, liebte den Film Panzerkreuzer Potemkin und veröffentlichte – unter dem Pseudonym »Ropschin« – in der Zeitung Limonka Gedichte über Bomben.
    Roschtschin besaß vierhundert Stunden Trance-Musik im Computer und ein T-Shirt mit einem Bild von Che Guevara, der einen gewaltigen Joint rauchte.
    Roschtschin sagte: »Ich schäme mich, gutsituiert zu sein, während die Menschen in meiner Heimatstadt Kowrow Katzen essen. Darum denke ich an Revolution. Ansonstenwürde ich nur an Marja Jewgenjewna denken und den ganzen Tag Trance hören.«
    Nikita fand, daß die Haltung »ich schäme mich« Roschtschin als klassischen Vertreter der russischen Intelligenzija charakterisierte. Einer von denen, die unters Volk gingen, kein Shiwago, sondern im guten Sinne des Wortes. Auch wenn er nichts dagegen hatte, unters Volk zu gehen, fühlte sich Roschtschin durch den Begriff »Intelligenzija« beleidigt. Obwohl er an der philologischen Fakultät Vorlesungen hielt.
    Wenn die Studentinnen ihren geliebten Jewgeni Jewgenjewitsch biertrinkend in Gesellschaft ungekämmter Widerständler auf dem Marsfeld oder auf einem Punk-Konzert trafen, war Roschtschin aufrichtig verlegen und betrübt ob seines zerstörten »pädagogischen Images«. Die Begeisterung der Studentinnen aber kannte keine Grenzen.
    Roschtschins Ausspruch »C’est la vie, sagte der Tod« war Kult, die weiblichen Erstsemester ritzten ihn versonnen in die Tische und seufzten. Sie schmachteten ihn an. Die wenigen Philologen männlichen Geschlechts schrieben gewöhnlich einen anderen Spruch daneben: »Ohne Kohle kommt die Liebe nie. So ist dieses C’est la vie.« Und seufzten ebenfalls. Und unterdrückten ihr gesundes Bedürfnis, die Vorlesung zu schwänzen und sich zu betrinken.
    Die Vorlesungen von Jewgeni Jewgenjewitsch schwänzte niemand. Nicht einmal bei Quartalssuff oder weltanschaulichen Krisen. Welche ihrerseits in der Regel durch Roschtschins subversiven Unterricht überhaupt erst ausgelöst wurden. Nikita war mehrfach Zeuge von Roschtschins Schamanenritualen. Er erlebte, wie die Jeunesse dorée, die Wächter der Nacht las und die Songs der Fernsehshow »Fabrika swjosd« mitsang, sich die Tränen abwischte bei derGeschichte des künftigen Terroristen Iwan Kaljajew, der, bis zur Hüfte im Sumpf stehend, Gott gesehen hatte. Natürlich erkannten die Studenten die anonymen Zitate der Klassiker des antibourgeoisen Denkens nicht, lauschten aber Roschtschins Predigten mit offenem Mund.
    » … Höher als Tatlins Turm ist nur Gott. Es ist ein Anti-Babylonischer Turm. Eine umgekehrte Projektion Babylons. Babylon, das ist Vereinzelung, gegenseitiges Nichtverstehen, Zwist, jeder für sich, it’s your problem , wie man so sagt. Bei Tatlin aber ist es genau umgekehrt – eine Internationale, das heißt, die Vereinigung der Menschen über Sprachen- und Rassengrenzen hinweg. Tatlins Turm ist der Antipode des Babylonischen Turms auf semantischer Ebene. Auf räumlicher Ebene ist dessen Antipode Platonows Baugrube. Ein Turm, der nach unten wächst, in die Erde hinein. Doch die inhaltliche Spannung ist die gleiche wie beim Turm zu Babylon: Die Einsamkeit des Menschen, das Abreißen der Kommunikation, und zwar nicht nur zwischen den Menschen, sondern auch zwischen dem Menschen und der Welt. Zwischen dem Menschen und seinem eigenen Leben. Das ist der Tod. Die Baugrube ist ein großes Grab. Ein Bestattungssymbol. Ein Symbol für die Kastration des Lebens, das, eines Sinns beraubt, zur leeren Hülle wird, zu nutzlosem Ramsch, den Woschtschewaufsammelt und in seinen Sack steckt …«
    Roschtschin stand in dem Ruf, für alles eine Erklärung zu haben. Nach

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