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Endstation Rußland

Endstation Rußland

Titel: Endstation Rußland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natalja Kljutscharjowa
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Schule nieder. Wanja schlief augenblicklich in einer Bank unter einem kaum erkennbaren Puschkinbild ein. Nikita lief noch eine Weile draußen herum. Im Fenster der Kolchosverwaltung brannte Licht. Und eine ihm vage bekannte, aber in keiner Weise an diesen Ort passende Gestalt lehnte sich rauchend aus dem Fenster. Die Silhouette wandte den Kopf in Nikitas Richtung, stieß einen unterdrückten Schrei aus, glitt vom Fensterbrett und verschwand aus dem beleuchteten Quadrat. Auf der Holztreppe dröhnten eilige Schritte, und Grischa stürmte auf Nikita zu.
    Fünf Minuten lang hing er nur an seinem Hals, stieß Freudenlaute aus und schwang den Kopf hin und her wie ein junger Hund, dem eine Hummel ins Ohr geflogen ist. Auch Nikita hatte es vor Überraschung die Sprache verschlagen, und er lächelte nur verlegen in die Dunkelheit.
    Betrachten konnte Nikita Grischa erst im Büro, das sie über eine schadhafte Holztreppe erreichten. Die einstige »Königin der Piste« sah originell aus: dreckverkrustete Gummistiefel, Wattehose und darüber ein Mantel von Yoshi Yamomoto, erstanden in einer der teuersten Boutiquenvon Moskau. Auf Grischas Gesicht, das früher wegen der dicken Puderschichten totenblaß gewesen war, leuchtete eine gesunde ländliche Röte. Das Lippenpiercing war verschwunden.
    Grischa, der an einer privaten Hochschule das Modefach »Werbung und Marketing« studiert hatte, arbeitete nun als Ökonom im dahinsiechenden Kolchos »Ähre«. Er stand früh um sechs auf und brüllte in den mit einer Binde umwickelten kaputten Telefonhörer:
    »Onkel Petja! Bei uns sind gestern ein paar Kälber eingegangen, wollt ihr Fleisch haben?«
    Außerdem war Mütterchen Altardiener in der Dorfkirche. Nach Gorki hatte ihn der hiesige Geistliche geholt, Vater Andrej.
    »Aber nicht was du denkst, nein, nein!« versicherte Grischa erschrocken. »Ich habe alle meine Laster hinter mir gelassen. Früher, ja, da kam das vor, aber mit Vater Andrej – ausgeschlossen! Daran wage ich nicht einmal zu denken! Ich habe Buße getan. Bald werde ich wohl sogar heiraten müssen. Sämtliche Familien hier schicken mir schon Brautwerber. Denen kann ich ja schlecht erklären, warum ich keine Frau brauche. Ich werde wohl umlernen!«
    Vater Andrej hatte Grischa im Internet kennengelernt, als er sich nach der Begegnung mit dem FSB in diversen Foren nach Wegen in die Emigration »egal wohin« erkundigte. Ein norwegisches Visum wurde ihm verweigert. Irgendwer riet ihm, »den Pilger zu mimen«, da gäbe es angeblich weniger Scherereien mit dem Visum, also klickte sich Grischa in ein orthodoxes Forum ein, wo er auf Vater Andrej traf, der dem verirrten Schäfchen schrieb: »Warum willst du ins Ausland, komm zu uns nach Gorki, hier findet dich ganz bestimmt niemand.«
    Der Leser von Hochglanzmagazinen und Stammgast von Modenschauen lachte herzlich über den Vorschlag, an den »Arsch der Welt« zu emigrieren, und vergaß ihn umgehend.
    Doch dann hatte Grischa einen äußerst schlechten Tag. Er zerstritt sich mit sämtlichen »Freundinnen«, verließ sein Väterchen, das ihn wegen erneuten Fremdgehens mit einem Hocker verprügelt hatte, und ging zur Ablenkung in einen Schwulenklub. Wo unbekannte Türsteher ihm überraschend den Zutritt verweigerten. Und ihn, als er auf seinem Recht bestand, dieses Etablissement für Auserwählte zu besuchen, brutal kopfüber in eine Schneewehe stießen.
    Grischa trottete durch das nächtliche Moskau, wischte sich den Schnee vom Gesicht, schluchzte und wollte sich etwas antun, »irgend so was, damit es ihnen dann allen leid tut, aber zu spät«. Doch sterben mochte Grischa ganz und gar nicht.
    Da fiel ihm Vater Andrej ein. Er beschloß, es »allen zu zeigen« und an den »Arsch der Welt« zu gehen. Lange wollte Grischa natürlich nicht in der Verbannung bleiben. Er hatte vor, sich irgendwann den zahlreichen tränenreichen Bitten zu fügen und nach Moskau zurückzukehren.
    Doch Grischa kehrte nicht nach Moskau zurück. Und dachte auch nicht mehr daran, ins Ausland zu emigrieren. Mit welchen Argumenten Vater Andrej den Stammgast der Moskauer Nachtklubs dazu gebracht hatte, in dem verlassenen Dorf zu bleiben, weiß Gott allein. Grischa selbst sprach nur ausweichend und höchst ungern über seine Wandlung.
    »Da bin ich allen scheißegal, aber Vater Andrej, der ist der erste, der mich als Menschen sieht. Und das Leben ist auch ruhiger hier. Außerdem muß ich langsam mal erwachsenwerden. Ich bin schon dreiundzwanzig und lebe, das heißt,

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