Endstation Rußland
aufgelöst, und fällt vor ihm auf die Knie. ›Vater‹, sagt er, ›erkennst du mich? Nein? Du hast mir das Leben gerettet!‹
Tatsächlich – es ist der junge Bandit, der das Schicksal unseres Obdachlosen so radikal verändert hat. Er erzählt dem Popen seine Geschichte. Er war damals auf dem Weg zu einer großen Schießerei, bei der alle seine Freunde erschossen wurden. Nur er konnte sich in einen Graben retten und blieb wie durch ein Wunder am Leben. Wie er meinte, dank der Gebete des ›heiligen Vaters‹. Danach gab er das Banditenleben auf und bereiste Kirchen …
Kurz, der einstige Bandit blieb ebenfalls in dieser Kirche. Als Altardiener des einstigen Obdachlosen. Das alles hat sich bei uns in Kresty zugetragen. Wenn du mir nichtglaubst, kannst du morgen hingehen und die beiden selber fragen. Aber jetzt wird geschlafen, morgen müssen wir wieder mit den Hühnern aufstehen!«
Vor dem Einschlafen ging Nikita noch auf eine Zigarette hinaus. Die dunklen, leblosen Hütten blickten mit leeren Fensterhöhlen in die Welt. Gorki erschien ihm wie eine Landschaft auf einem fremden Planeten. Der Himmel war nach dem Regen wieder klar, und die hellen ländlichen Sterne blendeten Nikita. Und irgendwo dort, in der unbewohnten Dunkelheit, schlief unter einem Puschkinbild der kleine Wanja und dachte selbst im Schlaf noch über den Platz des Menschen in der Welt nach.
Da hatte Nikita eine Erleuchtung. Er rannte in die Hütte zurück und riß im Dunkeln einen leeren Eimer um. Grischa richtete sich gerade geräuschvoll auf dem Ofen ein, Vater Andrej saß am Tisch und blätterte in einem kirchlichen Buch.
»In den Heimen für Alte und Obdachlose im Kloster, fragt man da die Leute nach ihren Papieren?« sprudelte Nikita auf der Schwelle heraus.
Grischa prustete los, doch der lachlustige Pope sah Nikita ohne das geringste Lächeln an.
»Gott verlangt keinen Ausweis. Aber es gibt solche Heime und solche. In manchen herrschen Sitten wie im Mittelalter. Fehlt nur noch, daß man die Leute in Ketten legt. Bei uns geht ja leider nichts ohne Extreme. Ob das die Kollektivierung ist oder die Wiedergeburt der Orthodoxie. Ich kenne einen guten Ort. Aber sehr weit weg. Im Ural, dort war ich früher Priester. Da steht ein Kloster mitten auf freiem Feld. Der Bau wurde in der Silvesternacht begonnen, in der allerersten Stunde des dritten Jahrtausends. Der dortige Priester, Vater Boris, hat ein Jahr später eigenhändig ein Holzhausgebaut und darin ein paar obdachlose Kinder untergebracht, die Klebstoff schnüffelten. Später kamen auch alte Frauen dazu. So leben sie zusammen, jung und alt. Die Kinder lernen von klein auf, sich um die Schwachen zu kümmern. Und Vater Boris sieht aus wie ein Sagenheld, er war früher beim Militär. Schön ist es dort. Ringsum Wälder, unermeßliche Weiten. Das Kloster hat noch keine Mauern, der Wind bläst von allen Seiten. Die Kinder haben Glöckchen in die Birken gehängt. Man hört ständig ein leises Klingen. Vater Boris sagt, so klingen Kinderseelen …«
Nikita hörte gebannt zu. Grischa schniefte verhalten; seine Nasenspitze lugte unter einer zerschlissenen Pelzjacke hervor.
»Aber wie sollen wir deine Babuschka dorthin bringen? Sie ist doch bestimmt in Moskau, oder?«
»Ja, in Moskau«, antwortete Nikita flüsternd. »Sie putzt sechzehn Etagen eines Elite-Hochhauses, sie ist Flüchtling aus Grosny, achtzig Jahre alt. Aber woher wissen Sie, daß es eine Babuschka ist?«
»Weil Männer in der Regel nicht so lange leben, daß noch Zeit bleibt fürs Altersheim«, sagte Vater Andrej lächelnd. »Weißt du was? Bring sie doch lieber hierher. Die halbe Hütte steht leer, alle gehen weg aus dem Dorf. Dann hätten Grischa und ich eine Art Mutter. Zwei Männer im Haus, das ist einfach schrecklich! Die schaffen es nicht einmal, wenigstens ein paar Gardinen aufzuhängen! Mit der übrigen Wirtschaft kommen wir ganz gut zurecht, auch wenn wir Städter sind. Bring sie her, hier wird sie nicht untergehen, dafür werden wir sorgen!«
22
Sie fanden Taïssija Iossifowna zwischen der fünften und sechsten Etage, Junker und er. Nikita genierte sich plötzlich schrecklich, wie als Jugendlicher, er brachte kein Wort heraus, nur »Tach«, und klammerte sich an den rettenden Henkel des Eimers.
Taïssija Iossifowna erkannte Nikita und wunderte sich.
»Es regnet doch gar nicht. Sag bloß, du kommst einfach so vorbei?«
Junker, nicht weniger verlegen als Nikita, knurrte:
»Beredet das mal zu zweit, ich warte im
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