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Endstation Rußland

Endstation Rußland

Titel: Endstation Rußland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natalja Kljutscharjowa
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das Buch, haben Sie es in der Schule gelesen?«
    Nikita nickte unbestimmt. Taïssija Iossifowna erschrak plötzlich und entschuldigte sich.
    »Nimm’s mir nicht übel, mein Lieber, daß ich so etwas frage. Das ist reine Gewohnheit. Ich war fünfzig Jahre Lehrerin. Und kann mir das Prüfen einfach nicht abgewöhnen. Sei mir bitte nicht böse.«
    Ich müßte Sie auf Knien um Verzeihung bitten, hätte Nikita beinahe gesagt, aber die Worte blieben ihm im Halse stecken.
    Aus einer Wohnung kam ein dicker Halbwüchsiger mit einem Bullterrier. Taïssija Iossifowna riß Nikita hastig den Eimer aus der Hand, griff zum Schrubber und schwang ihn so heftig, daß der Scheuerleiste Klagelaute entfuhren.
    Der Bullterrier knickte die krummen Beine ein und erleichterte sich. Der Junge lachte wiehernd und knatschte ungeniert auf seinem Kaugummi herum. Nikita hätte am liebsten beide umgebracht. Doch da kam der Lift, und die beiden Kreaturen verschwanden.
    »Du solltest lieber gehen. Der Regen hat aufgehört«, sagte Taïssija Iossifowna nervös. »Sonst schmeißen sie mich hier noch raus. Von wegen, läßt einfach Fremde ins Haus, und wer ist die überhaupt?«
    Nikita hielt sich am Fensterbrett fest. Fußboden und Decke schienen die Plätze zu tauschen. Die Stimme der alten Frau drang zu ihm wie vom Boden eines Brunnens. Nikita gab sich einen Ruck und kehrte zurück.
    »Taïssija Iossifowna, ich … wir …«
    »Geh schon, geh, mein Guter.« Die Alte schob Nikita zur Tür.
    »Halten Sie noch ein bißchen aus!« rief er, schon auf der Schwelle. »Es wird nicht für immer so bleiben! Ich lasse mir auf jeden Fall etwas einfallen!«
    Die Antwort war ein tiefes Knurren aus dem Gebüsch. Dann tauchte die zufriedene Schnauze des Bullterriers auf.

    »Was kannst du schon für sie tun? Jeden Tag hingehen und Wassereimer schleppen? Sie in deine Bude mitnehmen, aus der du selber jeden Moment rausfliegen kannst, weil dudeine Miete nicht zahlst? Die Instanzen abklappern und ihr Papiere besorgen? Einen pathetischen Artikel in der Nowaja gaseta schreiben? Immer dieses Geschwätz über das Wohl der Armen!« Junker war kritisch gestimmt, und ein angenehmes Gespräch bei einem Glas Chianti kam nicht recht in Gang.
    »Und was schlägst du vor? Eine Flasche Rotwein? Und wenn das nicht hilft, zwei?« rief Nikita, den der Bullterrier mit einer unermeßlichen Portion Wut aufgeladen hatte.
    »Ich schlage vor, sich nicht verrückt zu machen. Und vor allem niemals etwas zu versprechen, das du objektiv nicht halten kannst«, antwortete Junker ruhig und hielt sein Glas gegen das Licht. »Ich bin kein Zyniker. Ich bin Realist.«

21
    Die Hoffnung, den Ort Danilowo noch zu erreichen, wo eine Elektritschka fuhr, wurde von Minute zu Minute vager. Wie der vom Regen verschluckte Weg. Schließlich blieb der Überlandbus endgültig stecken, ruckte noch ein paar Mal und gab auf. Das Licht im Bus erlosch, und die Fahrgäste waren umzingelt von ihrem wilden, finsteren Heimatland.
    »Schluß, aus!« sagte der Fahrer müde und irgendwie familiär. »Wer’s schafft, läuft zu Fuß nach Kresty, von da fährt um neun noch ein Bus nach Kineschma, wer’s nicht so weit schafft – hier ganz in der Nähe liegt Gorki. Etwa zwei Kilometer. Da kann man in der Schule übernachten.«
    Der Regen trommelte mit doppelter Kraft gegen die Fenster.
    »Das schüttet ja wie aus einer Feuerspritze«, sagtehalblaut eine dicke Frau mit einem Korb Antonow-Äpfel, die Stirn gegen die schwimmende Scheibe gepreßt.
    In der Dunkelheit klang jeder Satz bedeutungsvoll und richtig, als treffe er mitten ins Herz, ins Schwarze, und berühre die wichtigsten Dinge im Leben.
    »Ja, der Himmel hat seine Schleusen geöffnet …«, seufzte eine kleine alte Frau und zupfte ihr Kopftuch zurecht.
    Heulend umschlang der schwarze Wind den reglosen Leib des Autobusses. Der Fahrer rauchte eine stinkende Papirossa, lauschte dem Rezitativ des Wassers und schien ebenfalls über etwas Wichtiges nachzudenken. Eine Weile schwiegen alle wie gebannt.
    »Da sind wir in einen Bus gestiegen, und auf einmal sitzen wir in der Arche Noah, und Gorki ist der Berg Ararat«, sagte ein etwa zehnjähriger Junge, der neben der kleinen alten Frau saß. Die Alte seufzte noch lauter und bekreuzigte sich.
    »Baba Polja, euer Wanja ist ja ganz schön schlau für sein Alter«, meldete sich eine weitere, in der Dämmerung schlecht auszumachende Passagierin der Arche.
    »Ach, hör auf, Katerina! Ich weiß gar nicht, was ich mit ihm machen soll!

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