Endstation Rußland
ich habe gelebt wie ein Kind, ohne jede Verantwortung. Als ich herkam, spürte ich auf einmal, wie leer ich innen drin bin. Ja, da habe ich mir das mit dem Zurückkehren anders überlegt. Was habe ich denn dort noch nicht gesehen, frage ich dich? Geschminkte Kerle? Jedenfalls, ich hatte das »Leben in Extremen« satt und hab beschlossen, »nach dem Verstand« zu leben. Das sagt der Altardiener in Kresty immer, ein ehemaliger Krimineller. Seine Geschichte ist auch interessant, laß sie dir mal von Vater Andrej erzählen.«
Vater Andrej fanden wir im Kuhstall. Das Priestergewand gerafft, lief er zwischen den Kühen umher und redete auf sie ein, mehr Milch zu geben.
»Er wurde erst vor kurzem zum Kolchosvorsitzenden gewählt«, erklärte Grischa. »Dabei ist er ein Stadtmensch, genau wie ich, und hat keine Ahnung, wie er es anfangen soll. Also versucht er, den Milchertrag durch Predigten zu steigern!«
Der Kolchosvorsitzende lachte und kam ihnen, über Pfützen springend, entgegen. Das Dach des Kuhstalls war stellenweise eingebrochen, und durch die Löcher schauten ferne Galaxien auf die Kolchosherde herab.
»Tja, vor kurzem ist meine Herde um zweihundert Stück Hornvieh gewachsen!« sagte der Pope und reichte Nikita die Hand. »Journalist? Nein? Merkwürdig! Als ich gewählt wurde, kamen die Journalisten in Scharen angepilgert, jeden Tag! Eine Sensation! Ein Pope als Kolchosvorsitzender! Dafür haben die Journalisten mir das ABC der Landwirtschaft beigebracht. Auch vom Fernsehen kamen welche. Arrangierten alle möglichen Szenen mit mir: Im Kuhstall, auf dem Feld … Dann hatte der Kameramann eine Idee: ›Ein Pope auf dem Traktor! So was hab ich noch niegedreht!‹ Sie setzten mich ans Steuer – zum ersten Mal in meinem Leben! Aber was sollte ich machen? Ich hab mich bekreuzigt und bin losgefahren …«
Vater Andrej hatte wenig von einem Geistlichen: Er war schmächtig, lachlustig, ein wenig linkisch, und wenn er verlegen war, klang seine Stimme jung, fast wie die eines Halbwüchsigen. Er schien überhaupt noch recht jung zu sein.
»Jetzt aber rasch nach Hause, ich muß dringend eine rauchen! Auf der Straße darf ich nicht, die Priesterwürde verbietet mir, den Himmel vollzuqualmen!« Vater Andrej scheuchte Nikita und Grischa mit derselben Gerte, mit der er eben noch die Kühe ermuntert hatte, zum Ausgang.
Zu Hause, in einer windschiefen kleinen Hütte am äußersten Rand von Gorki (»im Winter schauen die Hasen zum Fenster rein«, sagte Grischa) erfuhr Nikita bei billigem Rotwein die versprochene Geschichte des gewandelten Kriminellen. Es war seine erste gute russische Geschichte, wie Alja sie sich gewünscht hatte.
»Weißt du, es gibt Obdachlose, die haben eine ganz bestimmte Masche: Sie geben sich als Popen aus. Sie besorgen sich ein Priestergewand und sammeln Geld, angeblich für den Bau einer Kirche.
So ein verkleideter Schwindler steht also eines Tages vor dem Kiewer Bahnhof, die Sammelbüchse vor dem Bauch, in der Hand ein Heiligenbildchen – wie es sich gehört.
Da kommt ein teurer Wagen an, so eine Kriminellenkutsche, ein Kerl im schwarzen Hemd springt raus, wirft dem falschen Popen mit den Worten ›He, bete für mich, Vater!‹ einen Packen Geld hin und fährt wieder weg.
Der Obdachlose hat sich natürlich gefreut, hat gefeiert, getrunken, sich nach Kräften amüsiert. Doch dann geschah etwas Seltsames. Ob es der Katzenjammer war oder was,jedenfalls mußte er plötzlich an den jungen Kriminellen denken und daran, daß er gar nicht für ihn gebetet hatte und ja überhaupt nicht beten konnte … Und er schämte sich. Zum ersten Mal im Leben. Und wer dieses Gefühl zuvor noch nie erlebt hat, den haut es einfach um.
Er gab alles auf, verteilte das restliche Geld an seine Kameraden vor dem Kiewer Bahnhof und ging weg, immer der Nase nach. Lange irrte er durch Städte und Dörfer, ohne irgendwo zu bleiben. Er verwilderte völlig, Haare und Bart wucherten, er sah kaum noch wie ein Mensch aus.
Eines Tages schlief er auf der Treppe einer Dorfkirche ein. Am nächsten Morgen fand ihn der Pope, weckte ihn, gab ihm zu essen und redete mit ihm. Und der einstige Obdachlose blieb dort. Anfangs entfernte er die heruntergebrannten Opferkerzen und putzte das Weihrauchfaß, dann wurde er Altardiener, und schließlich ging er auf Betreiben des Popen ans Priesterseminar. Und wurde ein echter Geistlicher.
Und eines Tages kommt nach dem Gottesdienst ein junger Mann zu ihm, ganz blaß, mit brennenden Augen, völlig
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