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Endstation Rußland

Endstation Rußland

Titel: Endstation Rußland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natalja Kljutscharjowa
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verstehst du, das ist online-Kontakt mit Gott. In diesen Momenten könnte ich glatt sterben vor Entzücken, und mein Mann hält mich fest und ruft: ›Komm zurück!‹ Oh, guck mal, ist meine Wimperntusche zerlaufen?«
    Ein Junge im Zug sagt zu seiner angetrunkenen Mutter: »Hab ich wieder nicht aufgepaßt, ja? Hast dir im Speisewagen jemanden angelacht, ja? Eine Schande ist das mit dir, du Rumtreiberin! Los schlaf, sonst dröhnt dir morgen der Schädel! Denkst du, deine Kavaliere bringen dir was zum Ausnüchtern? Da kannst du lange warten! Du hast nur mich, merk dir das, nur mich!«
    Die Tomatenverkäuferin sagt: »Hausfrauen! Die Hausfrauen suchen bei mir das Rezept für ihr eheliches Glück. Billige Tomaten aus Moldawien! Die Ungebundenen und Leichtfertigen, die gehen vorbei, die brauchen meine Tomaten nicht! Hausfrauen! Hausfrauen! Dumme Gänse! Hirnlose Geschöpfe! Tote Makrelen! Wollen keine Tomaten kaufen! Ihr hofft vergeblich auf Glück! Jawohl, vergeblich!«
    Vater Boris, ein Geistlicher, der im Uralstädtchen Wereschtschagin ein Waisenhaus eröffnet hat, sagt: »Fragen Sie mich bloß nicht, wie viele Kinder wir hier haben! Eine ganze chinesische Volksrepublik! Ich habe längst mit dem Zählen aufgehört. Ich weiß, fünf hab ich selber gemacht, fünf adoptiert, aber mehr kann ich nicht sagen. Ich bin ein einfacher Mensch, ich versteh nichts von Kulkulationen! Aber meine Liebe, die reicht für alle!«

20
    Wie immer war alles reiner Zufall. Es begann zu regnen. Nikita suchte Zuflucht unter dem Vordach eines Elite-Hochhauses. Die Metalltür hinter ihm quietschte dünn und machte einen Versuch, aufzugehen, aber auf halbem Wege verließen sie die Kräfte, und sie schwang zurück. Nikita zogam Türgriff, und eine winzige alte Frau kam zum Vorschein.
    Ganz krumm, schleppte sie einen Eimer mit Schmutzwasser.
    »Babuschka, warum schleppen Sie denn so schwer, noch dazu bei solchem Regen. Sie sollten friedlich zu Hause sitzen«, sagte Nikita und nahm ihr den Aluminiumhenkel aus den gekrümmten Fingern.
    »Das würde ich ja, mein Lieber, aber ich habe kein Zuhause.« Die Alte seufzte ergeben. »Sei doch so gut und schütte das Wasser aus, wenn du schon dabei bist, ich geh schon mal weiter, ich muß noch acht Etagen putzen.«
    »Was denn, Sie wischen hier die Fußböden?« Plötzlich begriff Nikita. Die alte Frau sah eigentlich zu schwach aus für körperliche Arbeit. »Wie alt sind Sie denn?«
    »Ja, ich putze hier, mein Guter, letztes Jahr bin ich achtzig geworden, also bin ich jetzt einundachtzig«, antwortete die Alte, ohne sich aufzurichten. »Ach, komm kurz rein. Bis der Regen aufhört. Ist doch kalt draußen.«
    Den Wassereimer durfte Nikita durch die Etagen schleppen, den Schrubber aber wollte Taïssija Iossifowna ihm auf keinen Fall überlassen.
    »Warum sagen Sie, Sie hätten kein Zuhause?« bohrte Nikita weiter.
    »Weil ich keins hab. Mein Zuhause ist vor zehn Jahren zerbombt worden. In Grosny. Von dort bin ich nach Moskau geflüchtet. Ich habe hier Brüder, sie hatten mich selber eingeladen. Die erste Zeit haben sie mir geholfen, aber dann fingen die erwachsenen Kinder an zu mosern, von wegen, wieso wohnt sie hier bei uns, soll sich doch der Staat um sie kümmern. Also bin ich weg. Ich wollte ihnen nicht zur Last fallen.«
    »Und wo wohnen Sie?«
    »Na hier. Nachts.«
    »Im Hausflur?«
    »Nein, nicht doch. In der Portiersloge. Wenn die Portiersfrauen nach Hause gehen, schlafe ich auf ihrem Sofa. Ich hab meinen Nutzen davon, und sie auch: So kriegen sie volle vierundzwanzig Stunden bezahlt.«
    »Und tagsüber?«
    »Tags wische ich die Fußböden. Das Haus hat sechzehn Etagen. In ein paar Wohnungen kümmere ich mich um Bettlägerige, solange die Angehörigen arbeiten sind. Ich füttere sie. Und mach nebenbei auch mir selber was zu essen. Bis ich alles erledigt habe, ist auch schon Abend. Es gibt viele gute Menschen auf der Welt!«
    »Und der Staat?«
    »Was kümmert den das? Was ist das für ein Staat? Wohin ich mich auch wende, überall dasselbe: ›Wieso bist du nach Moskau gekommen?‹ Aber wo sollte ich denn hin? Ich wollte mich als Flüchtling registrieren lassen, aber nein, sie verlangen irgendwelche Papiere, eine Bescheinigung, wegen der ich wieder nach Grosny fahren müßte. Nach Grosny! Wie soll ich das schaffen? Ich breche doch unterwegs zusammen. Was hab ich nicht schon für Kummer gehabt, bloß, weil ich keine Papiere habe. Ich existiere sozusagen gar nicht. In den Listen nicht erfaßt .Kennen Sie

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