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Endstation Rußland

Endstation Rußland

Titel: Endstation Rußland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natalja Kljutscharjowa
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Er sagt manchmal Sachen, als wär er kein Kind, sondern ein bärtiger Starez! Der reinste Akademiker! Er macht mir richtig Angst, Katerina, ja, richtig Angst! Die alten Frauen sagen: Dem ist kein langes Leben beschieden, eurem Wanja, o nein, kein langes Leben!« Aus dem winzigen Mund der Alten kamen die Worte nur so geprasselt: klein, rund und prall wie Erbsen.
    »Selber bärtig, ihr Weiber. Ihr habt im ganzen Leben noch kein einziges kluges Wort gesagt«, reagierte Wanja beleidigt und drehte sich zum Fenster – mit einer in der Tat ganz unkindlichen Traurigkeit.
    Nikita hauchte auf die Fensterscheibe und malte für Wanja ein grinsendes Gesicht. Wanja warf einen düsteren Blick darauf und zuckte die Achseln. Dann musterte er Nikita von Kopf bis Fuß und sagte herausfordernd:
    »Und welcher Wind hat dich hergeweht? Suchst wohl ein Dorf, wo du im Alter deine Seele retten kannst? Ganz verkehrt! Das sollte man nicht bis ins Alter aufschieben, womöglich stirbst du ja vor deiner Zeit. Ohne deine Seele gerettet zu haben. Dann kommst du nicht zu Gott ins Paradies!«
    Baba Polja schimpfte mit Wanja:
    »Was soll das, Wanja! Warum belästigst du die Leute mit deinen Predigten! Na warte, das sag ich deinem Vater, der wird dich lehren, die Erwachsenen zu achten! Entschuldigen Sie bitte, unser Wanja ist ein bißchen wunderlich.«
    Die Alte zupfte schuldbewußt an Wanjas Jacke und lächelte Nikita devot an. Wanja riß sich von seiner Großmutter los und redete weiter.
    »Und wer soll dich im Dorf ernähren, wenn du alt bist? Das Vieh versorgen, Holz hacken? Meinst du, die Kuh melkt sich selber und stellt dir einen Krug Milch auf den Tisch, wie eine Kellnerin mit weißer Schürze? Nee, um das Vieh muß man sich kümmern, genau wie um die Seele, und dafür muß man stark sein, nicht alt und schwach.«
    »Ich soll also gleich anfangen?« fragte Nikita vollkommen ernst.
    Wanja schaute ihn von unten herauf an, als wolle er sich vergewissern, ob Nikita ihn auslachte oder nicht, und plötzlich lächelte er.
    »Je früher, desto besser!« Dann setzte er friedfertig hinzu: »Komm doch mit nach Gorki, da ist meine Schule. Da ist vor kurzem so einer aufgetaucht. Einer, der sich retten will. Echtzum Lachen und zum Weinen: mal läßt er den Eimer in den Brunnen fallen, mal verliert er seinen Stiefel im Schlamm – ein Stadtmensch eben!«
    Auf dem Weg nach Gorki taute Wanja völlig auf, hielt Nikita an der Hand und schwatzte ununterbrochen, gegen den Wind anschreiend, der seine Worte nach hinten wehte, wo die »bärtigen Weiber« durch den Schlamm trotteten. Der Fahrer übernachtete zusammen mit dem Korb Antonow-Äpfel im Bus.
    Der zehnjährige Wanja weihte Nikita rasch in seine Biographie und seine Ansichten über die Welt ein.
    »Ich denke die ganze Zeit. Ich kann nicht damit aufhören. Tagelang. Im Unterricht denke ich. Wenn ich den Gemüsegarten gieße, denke ich. Wenn ich die Kälber tränke. Sogar im Schlaf denke ich. Aber reden kann ich mit niemandem darüber. Um mich rum sind nur Weiber. Die heulen immer gleich los: Ihm ist kein langes Leben beschieden, kein langes Leben. Sie haben Angst, daß ich zu schlau bin. Aber ich finde, wenn die Leute ihr Gehirn nicht so viel im Leerlauf ließen, wären alle Menschen klug. Das ist wie Muskeltraining. Ich hab ja manchmal auch gar keine Lust zum Denken, sondern wäre lieber schlaff und träge und würde über Comedy-Shows im Fernsehen lachen. Aber das gestatte ich mir nicht. Ich zwinge mich zum Denken. Das ist meine Art, mich zu retten.«
    »Worüber denkst du denn die ganze Zeit nach?« schrie Nikita gegen die straffe Mauer des Windes an.
    »Über Verschiedenes. Darüber, wie die Welt eingerichtet ist. Darüber, wozu die Menschen leben. Aber meistens natürlich über Gott. Zum Beispiel darüber, warum er lauter Katastrophen geschehen läßt, bei denen viele Menschen sterben. Das sind ja nicht alles Sünder, wie in Sodom,manchmal sind auch ganz kleine Kinder darunter, Säuglinge, deren Seele noch rein ist.«
    »Und – warum?« fragte Nikita, der ebenfalls oft darüber nachdachte.
    Wanja schwieg, bis ein besonders heftiger Windstoß vorbei war. Nikita wurde mulmig zumute. Er ertappte sich dabei, daß er von diesem Kind Antwort auf seine eigenen Zweifel und Fragen erwartete.
    »Das habe ich noch nicht verstanden«, antwortete Wanja gesetzt. »Aber daß ich es nicht verstehen kann, heißt keineswegs, daß es keinen Sinn hat.«
    Als sie Gorki erreichten, war es stockfinster. Sie ließen sich in der

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