Endstation Venedig
über den Zwischenfall verloren, aber Brunetti wußte, daß in ihrem Schreibtisch immer etwas zu essen für ihn war.
Grazie, Anita , sagte er und nahm eine der Birnen. Er entfernte den Stiel und biß hinein. Sie war reif und süß. Mit fünf raschen Bissen hatte er sie vertilgt und griff nach der zweiten. Ein bißchen weniger reif, aber immer noch süß und weich. Die beiden feuchten Kerngehäuse in der Hand, nahm er sich die dritte Frucht, bedankte sich noch einmal und ging, gestärkt für die Fahrt zum Piazzale Roma und seinem Treffen mit Doctor Peters. Captain Peters.
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Er kam zwanzig Minuten vor sieben bei der Carabinieristation am Piazzale Roma an und ließ Monetti in der Polizeibarkasse zurück, um auf ihn und die Ärztin zu warten. Auch wenn es zweifellos etwas über seine Vorurteile aussagte, fand er es angenehmer, sie als Ärztin zu sehen statt als Captain. Er hatte vorher angerufen, so daß die Carabinieri ihn schon erwarteten. Es war der übliche Haufen, die meisten aus dem Süden, und nie schienen sie die verräucherte Wache zu verlassen, deren Sinn und Zweck Brunetti sowieso nicht verstand. Carabinieri hatten nichts mit dem Verkehr zu tun, und Verkehr war das einzige, was es hier auf dem Piazzale Roma gab: Autos, Taxis, Wohnwagen und besonders im Sommer endlose Reihen von Bussen, die hier gerade lange genug parkten, um ihre Touri-stenladungen auszuspucken. Erst im vergangenen Sommer war eine neue Art von Vehikel dazugekommen, nämlich die dieselbetriebe-nen, qualmenden Busse, die über Nacht aus einem frisch befreiten Osteuropa angerumpelt kamen. Ihnen entstiegen, von langer Fahrt und Schlafmangel gezeichnet, Tausende sehr höflicher, sehr armer und sehr stämmiger Touristen, um einen einzigen Tag in Venedig zu verbringen und dann betäubt von der Schönheit, die sie an diesem einen Tag gesehen hatten, wieder abzufahren. Hier gewannen sie ihren ersten Eindruck vom Triumph des Kapitalismus und waren viel zu sehr davon bewegt, um zu merken, daß vieles nichts weiter war als Papiermachémasken aus Taiwan und Spitzendeckchen aus Korea.
Er betrat die Wache und tauschte freundliche Begrüßungsworte mit den beiden Diensthabenden aus.
Noch nichts zu sehen von La
Capitana , sagte der eine und lachte hämisch bei der Vorstellung, daß eine Frau Offizier sein sollte. Daraufhin beschloß Brunetti, sie wenigstens in Hörweite dieser beiden mit ihrem Dienstgrad anzure-den und ihr alle Zeichen des Respekts zu erweisen, auf die sie ein Anrecht hatte. Nicht zum ersten Mal zuckte er innerlich zusammen, wenn er seine eigenen Vorurteile bei anderen wiederfand.
Er tauschte mit den Carabinieri ein paar Nichtigkeiten aus. Welche Siegchancen hatte Neapel an diesem Wochenende? Würde Ma-radona spielen? Die Regierung stürzen? Er stand an der Glastür und sah den Verkehr in Wellen über den Piazzale Roma schwap-pen. Fußgänger tänzelten im Zickzack zwischen Autos und Bussen hindurch. Niemand kümmerte sich auch nur einen Deut um die Ze-brastreifen oder die weißen Linien, die zur Trennung der Fahrbahnen gedacht waren. Und doch floß der Verkehr reibungslos und rasch dahin.
Eine hellgrüne Limousine überquerte die Busspur und hielt hinter den beiden blau-weißen Carabinieriwagen. Es war ein neutrales Auto ohne Markierungen oder Blaulicht, das einzig Auffällige daran war das Kennzeichen mit der Aufschrift
AFI Official . Die Fahrertür
ging auf, und ein uniformierter Soldat wurde sichtbar. Er stieg aus und öffnete den Verschlag für eine junge Frau in dunkelgrüner Uniform. Sobald sie neben dem Wagen stand, setzte sie ihre Mütze auf und blickte zuerst um sich, dann zur Carabinieristation hinüber.
Ohne sich groß von den Männern zu verabschieden, verließ Brunetti die Station und ging auf das Auto zu. Doctor Peters?
fragte
er im Näherkommen.
Sie sah hoch, als sie ihren Namen hörte, und machte einen Schritt auf ihn zu. Dann streckte sie die Hand aus, drückte die seine kurz und stellte sich als Terry Peters vor. Sie sah aus wie Ende Zwanzig und hatte lockiges braunes Haar, das sich dem Druck ihrer Kopfbedeckung widersetzte. Ihre Augen waren dunkelbraun, die Haut noch vom Sommer getönt. Wenn sie gelächelt hätte, wäre sie noch hübscher gewesen. Statt dessen sah sie ihm direkt in die Augen, den Mund zu einer geraden Linie zusammengekniffen, und fragte: Sind
Sie der Inspektor von der Polizei?
Commissario Brunetti. Ich habe ein Boot hier, das uns nach San Michele hinausbringen wird. Als er ihre Verwirrung
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