Endstation Venedig
Commissario. Gestern abend hat jemand für Sie angerufen.
Wer?
Ich weiß es nicht. Der Kollege in der Vermittlung sagt, das Gespräch sei so gegen elf gekommen. Eine Frau. Sie hat namentlich nach Ihnen gefragt, aber sie sprach kein Italienisch, oder nur sehr wenig. Er hat noch etwas gesagt, aber das habe ich vergessen.
Ich rede auf dem Weg nach oben mit ihm , sagte Brunetti und ging. Statt die Treppe zu nehmen, trat er am Ende des Korridors in den kleinen Verschlag, in dem die Telefonvermittlung saß. Es war ein junger Rekrut mit frischem Gesicht, wahrscheinlich gerade achtzehn.
Brunetti fiel sein Name nicht ein.
Als der Junge Brunetti sah, sprang er auf und zog dabei das Kabel mit, das seine Kopfhörer mit der Schalttafel verband. Guten Morgen, Commissario.
Guten Morgen. Setzen Sie sich doch.
Der junge Mann leistete der Aufforderung Folge, saß aber sichtlich nervös auf der Stuhlkante.
Rossi sagt, daß gestern abend jemand für mich angerufen hat?
Jawohl, Commissario , sagte der Rekrut, der offensichtlich Mü-
he hatte, nicht aufzuspringen, wenn er mit einem Vorgesetzten sprach.
Haben Sie das Gespräch entgegengenommen?
Ja, Commissario.
Und um Brunettis Frage zuvorzukommen,
warum er dann zwölf Stunden später immer noch Dienst tat, erklärte er rasch:
Ich habe Monicos Schicht übernommen, Commissario. Er ist krank.
Brunetti interessierte dieses Detail nicht.
Was hat sie ge-
sagt?
wollte er wissen.
Sie hat nach Ihnen gefragt, Commissario. Namentlich. Aber sie sprach nur sehr wenig Italienisch.
Wissen Sie noch genau, was sie gesagt hat?
Ja.
Er wühlte in den Papieren auf seinem Tisch vor dem Schaltbrett.
Hier habe ich es notiert.
Er zog ein Blatt unter den
anderen hervor und las:
Sie fragte nach Ihnen, gab aber ihren Namen nicht an. Ich fragte nach ihrem Namen, aber sie antwortete nicht, oder sie verstand mich nicht. Ich sagte ihr, daß Sie nicht da sind, aber sie wiederholte, daß sie mit Ihnen sprechen wolle.
Hat sie englisch gesprochen?
Ich glaube ja, aber sie hat nur ganz wenig gesagt, und ich konnte sie nicht verstehen. Ich habe ihr gesagt, sie soll italienisch reden.
Was hat sie noch gesagt?
Irgend etwas, das klang wie >basta< oder >pasta<, vielleicht auch
>posta <.
Noch etwas?
Nein, Commissario. Nur das. >Basta< oder >pasta<. Dann hat sie aufgelegt.
Wie hat es sich angehört?
Angehört?
Ja, fröhlich oder traurig oder nervös?
Der junge Mann dachte ein Weilchen nach und antwortete schließ-
lich:
Es hat sich weder so noch so angehört, Commissario. Höchstens enttäuscht, daß Sie nicht da waren, würde ich sagen.
Na gut. Wenn sie wieder anruft, stellen Sie das Gespräch zu mir durch, oder zu Rossi. Er spricht Englisch.
Ja, Commissario , sagte der Junge. Als Brunetti sich umdrehte, um hinauszugehen, wurde die Versuchung übermächtig, und der Rekrut sprang auf und salutierte Brunettis Rücken.
Eine Frau, die sehr wenig Italienisch sprach.
Molto poco , hatte
Doctor Peters gesagt. Ihm fiel etwas ein, was sein Vater einmal übers Angeln gesagt hatte, als man in der Lagune noch fischen konnte.
Es sei schlecht, den Köder zu hastig zu werfen, weil es die Fische verschrecke. Er würde also warten. Sie war ja noch sechs Monate da, und er hatte auch nichts weiter vor. Wenn sie sich nicht wieder meldete, würde er sie am Montag in ihrem Krankenhaus anrufen.
Und Ruffolo war also draußen und wieder im Geschäft. Als Ge-legenheitsdieb und Einbrecher hatte er in den letzten zehn Jahren immer wieder im Gefängnis gesessen, zweimal mit Brunettis Zutun.
Seine Eltern waren vor Jahren aus Neapel hergezogen und hatten dieses Früchtchen mitgebracht. Sein Vater hatte sich zu Tode gesof-fen, nicht ohne seinem einzigen Sohn vorher eingetrichtert zu haben, daß etwas so Gewöhnliches wie Arbeiten oder Handel treiben nicht Sache der Ruffolos war, nicht einmal Studieren. Und als echter Apfel vom väterlichen Stamm hatte Giuseppe nie gearbeitet, gehandelt höchstens mit Diebesgut und nur studiert, wie man Schlösser knack-te und in anderer Leute Häuser kam. Wenn er so kurz nach seiner Entlassung schon wieder bei der Arbeit war, konnten seine zwei Jahre Gefängnis keine vergeudete Zeit gewesen sein.
Aber ob Brunetti wollte oder nicht, er mochte die beiden, Mutter und Sohn. Peppino schien es ihm nicht persönlich übelzunehmen, daß er ihn festgenommen hatte, und Signora Concetta war, nachdem der Zwischenfall mit der Zickzackschere einmal vergessen war, Brunetti dankbar für seine
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