Endstation Venedig
Halbwertzeiten dieser Substanzen, die Zeit offenbar, die eine Substanz brauchte, um noch halb so tödlich zu sein wie zum Zeitpunkt der Messung. In einigen Fällen waren das Hunderte von Jahren, in anderen Tausende.
Und diese Substanzen wurden von den Industrienationen in riesigen Mengen produziert, während die Erde in die Zukunft raste.
Jahrzehntelang hatte die Dritte Welt als Müllkippe der Industrieländer gedient und ihnen ganze Schiffsladungen von Giftmüll abgenommen, die im Austausch gegen momentanen Wohlstand über ihre Pampas, Savannen und Plateaus verteilt wurden, ohne einen Gedanken an den Preis zu verschwenden, den künftige Generationen zu zahlen hätten. Und nun, da einige Länder der Dritten Welt sich nicht mehr als Müllhalden für die Erste zur Verfügung stellen wollten, waren die Industrienationen gezwungen, Entsorgungs-systeme zu entwickeln, viele davon ruinös teuer. Als Folge davon fuhren ganze Karawanen von Geisterlastzügen mit gefälschten Papieren auf der italienischen Halbinsel auf und ab und suchten und fanden Plätze, wo sie ihre tödlichen Ladungen loswerden konnten.
Oder Schiffe liefen von Genua oder Tarent aus, die Laderäume voller Fässer mit Lösungsmitteln und anderen Chemikalien und weiß der Himmel was sonst noch, und wenn sie in ihrem Bestimmungs-hafen ankamen, waren die Fässer nicht mehr an Bord, als ob der Gott, der ihren Inhalt kannte, sich entschlossen hätte, sie zu sich zu nehmen. Gelegentlich wurden sie in Nordafrika oder Kalabrien an Land gespült, aber natürlich hatte niemand eine Ahnung, woher sie kamen, noch merkte jemand, wenn sie wieder den Wellen anvertraut wurden, die sie an die Strande gespült hatten.
Der Ton des Grünen-Buches verdroß Brunetti; die Tatsachen er-schreckten ihn. Sie nannten die Transporteure und die Firmen, die sie bezahlten, mit Namen, und schlimmer noch, sie zeigten Fotos von den illegalen Müllkippen. Der Ton war anklagend, und schuld hatte nach Ansicht der Autoren die gesamte italienische Regierung, Hand in Hand mit den Firmen, die diese Produkte herstellten und nicht von Gesetzes wegen für die Entsorgung verantwortlich gemacht wurden. Das letzte Kapitel befaßte sich mit Vietnam und den inzwischen sichtbar werdenden genetischen Folgen all der Tonnen von Dioxin, die während des Krieges mit den Vereinigten Staaten über dem Land abgeworfen worden waren. Die Beschreibungen von Mißbildungen bei Neugeborenen, der zunehmenden Fehlgeburten und der Verseu-chung von Fischen, Wasser und Boden waren klar und selbst dann noch erschütternd, wenn man die unvermeidlichen Übertreibungen der Autoren berücksichtigte. Und dieselben Chemikalien, so behaup-teten die Autoren, wurden überall in Italien abgeladen, als wäre es das Normalste von der Welt.
Als Brunetti zu Ende gelesen hatte, merkte er, daß er sich hatte manipulieren lassen, daß die Argumentation in allen diesen Büchern schwere Mängel aufwies, daß sie Verbindungen unterstellten, wo keine aufgezeigt werden konnten, und Schuld zuwiesen, wo die Tatsachen dafür nicht ausreichten. Er sah aber auch, daß eine Grundan-nahme in allen Büchern wahrscheinlich stimmte: daß derart weit-verbreitete und unbestrafte Gesetzesverstöße – und die Weigerung der Regierung, schärfere Gesetze zu formulieren – auf eine enge Beziehung zwischen den Tätern und der Regierung hinwiesen, deren Aufgabe es gewesen wäre, sie zu verhindern und zu bestrafen. Waren die beiden vom Stützpunkt in ihrer Naivität in diesen Strudel geraten, hatte ein Kind mit einem Ausschlag am Arm sie da hinein-gezogen?
18
Ambrogiani rief Brunetti gegen fünf zurück, um ihm zu sagen, daß der Vater des Jungen, ein Sergeant, der in der Beschaffungsstelle arbeitete, offenbar noch in Vicenza sei; zumindest war sein Auto noch da, dessen Zulassung erst vor zwei Wochen erneuert worden war. Und da diese Prozedur eine Unterschrift des Besitzers verlangte, konnte man daraus schließen, daß er tatsächlich noch in Vicenza war.
Wo wohnt er?
Das weiß ich nicht , antwortete Ambrogiani.
Im Verzeichnis
steht nur seine Postanschrift, ein Postfach hier auf dem Stützpunkt, keine Wohnadresse.
Kannst du die in Erfahrung bringen?
Nicht ohne daß mein Interesse an ihm bekannt wird.
Nein, das möchte ich nicht , sagte Brunetti.
Aber ich würde
gern außerhalb des Stützpunkts mit ihm reden.
Gib mir einen Tag Zeit. Ich schicke einen meiner Leute in sein Büro, um festzustellen, wie er aussieht. Glücklicherweise tragen sie ja alle
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