Endstation Venedig
anderen Landesteilen. Nachdem er alles gelesen hatte, nahm er den großen Umschlag in Augenschein. Über die obere Hälfte lief ein schmales Band von Briefmarken, mindestens zwanzig. Sie sahen alle gleich aus, mit einer kleinen amerikanischen Flagge und der Wertbezeich-nung neunundzwanzig Cents darauf. Der Umschlag war namentlich an ihn adressiert, aber darunter stand nur: Questura, Venice, Ita-ly . Ihm fiel niemand in Amerika ein, der ihm schreiben würde. Ein Absender stand nicht darauf.
Er schlitzte den Umschlag auf, griff hinein und zog eine Zeitschrift heraus. Beim Blick auf den Titel erkannte er die medizinische Zeitschrift, die Dr. Peters ihm aus der Hand gerissen hatte, als sie ihn in ihrem Sprechzimmer überraschte. Er blätterte darin herum, hielt bei den grotesken Fotos inne und blätterte weiter. Ganz hinten fand er drei Blatt Papier, offensichtlich Fotokopien, zwischen den Seiten.
Er nahm sie heraus und legte sie vor sich auf den Schreibtisch.
Oben las er: Medical Report, darunter waren Spalten für Namen, Alter und Rang des Patienten. Hier stand der Name Daniel Kayman, dessen Geburtsjahr mit 1984 angegeben war. Danach seine medizinische Vorgeschichte, die mit Masern 1989 begann, es folgten etliche blutige Nasen im Winter 1990, ein gebrochener Finger 1991, und auf den letzen beiden Seiten eine Reihe von Konsultationen wegen eines Hautausschlags am linken Arm, der zwei Monate zuvor begonnen hatte. Während Brunetti las, breitete dieser Ausschlag sich immer weiter aus und stürzte die drei behandelnden Ärzte in immer tiefere Verwirrung.
Am achten Juli war der Junge zum ersten Mal von Dr. Peters begutachtet worden. Ihre ordentliche, schräge Handschrift sagte, daß der Hautausschlag
unbekannter Herkunft
war, sich aber gezeigt
hatte, nachdem der Junge von einem Picknick mit seinen Eltern zurückkam. Er bedeckte die Innenseite seines Arms vom Handgelenk bis zum Ellbogen, war dunkel purpurfarben, juckte aber nicht. Die verordnete Therapie war eine medizinische Hautcreme.
Drei Tage später war der Junge wieder da, der Ausschlag schlimmer. Er sonderte jetzt eine gelbe Flüssigkeit ab und tat weh, zudem hatte der Junge hohes Fieber. Dr. Peters riet, einen Dermatologen im örtlichen Krankenhaus in Vicenza zu konsultieren, aber die Eltern weigerten sich, das Kind einem italienischen Arzt vorzustellen.
Sie verschrieb eine neue Creme, diesmal mit Kortison, und ein An-tibiotikum zur Fiebersenkung.
Nach nur zwei Tagen wurde der Junge wieder ins Krankenhaus gebracht und von einem anderen Arzt namens Girrard behandelt, der im Bericht vermerkte, daß der Junge große Schmerzen habe.
Der Ausschlag sah jetzt aus wie eine Verbrennung und hatte sich über den ganzen Arm bis zur Schulter ausgedehnt. Die Hand war geschwollen und tat weh. Das Fieber war nicht zurückgegangen.
Ein Dr. Grancheck, offenbar Dermatologe, hatte sich das Kind angesehen und empfohlen, es sofort ins Armeekrankenhaus Landstuhl in Deutschland zu überweisen.
Am Tag danach wurde der Junge mit einer Sondermaschine nach Deutschland gebracht. Weiter stand nichts in dem Bericht, aber Dr.
Peters hatte neben die Bemerkung, daß der Ausschlag jetzt aussah wie eine Brandwunde, in ihrer ordentlichen Handschrift eine Notiz an den Rand geschrieben.
PCB
stand da, und dahinter:
FPJ,
March .
Er prüfte das Datum, aber er wußte es schon, bevor er es sah.
Family Practice Journal, die Märzausgabe. Er schlug die Zeitschrift auf und fing an zu lesen. Ihm fiel auf, daß im Impressum fast nur Männernamen standen, daß Männer die meisten Artikel verfaßt hatten, und daß im Inhaltsverzeichnis Beiträge über alles mögliche aufgeführt waren, von jenem über die Füße, der ihn so abgestoßen hatte, bis zu einem über die Zunahme von Tuberkulose als Folge von Aids.
Sogar etwas über die Übertragung von Parasiten durch Haustiere auf Kinder war dabei.
Da ihm das Inhaltsverzeichnis nicht weiterhalf, begann er auf der ersten Seite, einschließlich aller Anzeigen und Leserbriefe. Auf Seite 62 fand er dann eine kurze Notiz über einen Fall, der aus Newark in New Jersey gemeldet worden war. Ein sechsjähriges Mädchen hatte auf einem leeren Grundstück gespielt und war dabei in eine Pfütze getreten, die sie für Öl aus einem abgestellten Auto hielt.
Die Flüssigkeit war ihr über den Schuh gelaufen und hatte ihr Söckchen durchtränkt. Am nächsten Tag hatte sie einen Ausschlag am Fuß bekommen, der sich bald zu so etwas wie einer Brandwunde entwickelte
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