Endymion Spring - Die Macht des geheimen Buches
heißhungrig danach. Es ist in einer wundervollen Sprache geschrieben. Drastisch und grell und zart und verführerisch. Natürlich bieten sich da verschiedene Lesarten an.«
Blake verstand noch weniger von dem, was sie sagte. Seine Aufmerksamkeit sank allmählich. Während er mit halbem Ohr hinhörte, ließ er seine Blicke durch den Raum wandern.
Inzwischen waren noch mehr Mitglieder der Ex Libris Gesellschaft eingetroffen. Überall sprach man von der Zukunft der Bücher, die durch den neuen Plan, die Bestände der Bodleian Library zu digitalisieren, bedroht schien. Blake beobachtete, wie Prosper Marchand, einer der großen Befürworter des Digitalisierungsprojekts, schnurstracks auf seine Mutter zuging - mit zwei Gläsern Wein in der ausgestreckten Hand.
Plötzlich ertönte Sir Giles' wütende Stimme: »Braunrot sage ich Ihnen! Christina Rossettis persönliche Ausgabe war braunrot! Sie sind ein Ignorant, Sir!«
Verwirrung machte sich im Raum breit. Eine kleine Frau mittleren Alters mit strähnigem braunen Haar, die geradewegs von ihrem Hexenbesen gestiegen zu sein schien, fuhr zusammen und sagte mit quietschiger Stimme zu ihrem Gesprächspartner: »Ich wünschte, er würde nicht immer so explodieren! Er erschreckt mich jedes Mal zu Tode!«
Diana jedoch schien der Ausbruch unbeeindruckt zu lassen.
»Giles ist der Ansicht«, erklärte sie leise und nahm Blake am Arm, »Professoren sollten sich allein auf die erste Ausgabe von Markt Goblin beziehen. Ich persönlich ziehe eine spätere Version vor, weil deren Illustrationen die Kobolde unheilvoller und verführerischer erscheinen lassen und dadurch gefährlicher.« Sie lächelte, und Blake nickte, was er an dieser Stelle für die passendste Reaktion hielt.
Ohne dass es ihm aufgefallen war, hatte sie ihn vom Fenster weggelotst, hin zu einem großen, reichlich gedeckten Tisch. Ein Butler war damit beschäftigt, die Hauben von den Platten zu entfernen, die mit Hummer, Austern und Ente mit Orangenglasur belegt waren, dazu mit Bergen von heißem Gemüse.
Was aber Blake noch mehr faszinierte, war die Auswahl an Früchten. Außer den üblichen Ananas, Pflaumen und Pfirsichen gab es da Dinge, die er noch nie gesehen hatte: Früchte in Form von Sternen und andere, die stacheligen Schwämmen glichen. Da waren auch orangefarbene Beeren, halb versteckt in Blätterkäfigen, die wie Papierlampions aussahen. Die gefielen ihm besonders. Beim Anblick all dieser Früchte musste er unwillkürlich an den Koboldmarkt denken, den Diana Bentley vorhin beschrieben hatte.
Wie um seine Gedanken zu bekräftigen, summte die Frau »Kommt kauft, kommt kauft« vor sich hin und ließ dabei ihre Blicke über den Tisch wandern. »Ein herrliches Festmahl«, sagte sie, dann gesellte sie sich zu ihrem Mann, der neben einer Terrine mit Kürbissuppe stand.
Blake lud sich allerhand auf seinen Teller und fing an zu essen.
»Mich wundert, dass sie dir kein Lokum angeboten hat«, murmelte Duck, die herangekommen war. »Ich kann die Frau nicht leiden. Sie hat etwas Eiskaltes an sich.«
Blake zog die Schultern hoch. »Du bist nur eifersüchtig, weil sie dich nicht beachtet hat.«
»Stimmt.«
»Was ist denn Lokum?«, fragte er mit vollem Mund, um das Thema zu wechseln.
»Das Zeug da«, sagte Duck und zeigte auf eine Platte mit orangefarbenen und leicht violetten Geleewürfeln, die mit Puderzucker bestäubt waren. »In Büchern mögen das immer nur die Schurken.«
»Ja?«, sagte er grinsend. Er konnte der Versuchung nicht widerstehen und steckte sich einen der glibberigen Würfel in den Mund.
»Nicht!«, rief Duck.
Augenblicklich wünschte er, er hätte das Zeug nicht angerührt. Es schmeckte entsetzlich! Die klebrige Süße der Geleemasse fuhr ihm in die Zähne. Er machte sich auf die Suche nach einem Glas Wasser, um den Geschmack wegzuspülen. Als er zurückkam, fand er Paula Richards im Gespräch mit Duck, die dabei immer das süße Konfekt im Auge behielt.
Um sich zu verkrümeln, ging Blake zum Ende des Tisches, wo das Obst lag. Obwohl die Sternfrüchte verlockend aussahen, nahm er lieber eine der laternenähnlichen Beeren. Er zögerte kurz, dann steckte er sie in den Mund.
Ein älterer Herr hinter ihm sog hörbar die Luft ein.
Blake drehte sich überrascht um, die orangefarbene Beere wie einen Dauerlutscher zwischen den Lippen. Der Mann hielt sich die Wange, als hätte er Zahnschmerzen. Zwinkernd sah er Blake an. Beiß da bloß nicht drauf«, sagte er. »Die schmecken nach Shampoo!«
Blake
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