Endzeit
losgefahren wäre, ihn aus dem Pflegeheim geholt und hierhergebracht hätte, weil ich Fleisch von seinem Fleisch und einsam bin. Das EK T-Gerät ist ein kleiner Kasten wie der von Dr. Ehmet in Oxsmith. |274| Auf meine Anweisung hin hat Ned ein niedriges Sofa zum Bett umfunktioniert.
»Vielen Dank, Bethany«, sage ich mit einem Blick auf den Eimer. »Und jetzt schütte ihn bitte aus. Vorzugsweise in eine Toilette und nicht über jemandes Kopf. Wir rufen dich, wenn wir fertig sind.«
In den vergangenen Stunden habe ich mich vor allem mit zwei Dingen beschäftigt: mir Sorgen um Bethanys Mageninhalt gemacht, ein Problem, das sauber gelöst wurde, und versucht, dem Physiker aus dem Weg zu gehen. Ich genieße die Erleichterung und den Schmerz, die mir seine Abwesenheit verschafft, und schaue aus dem Fenster.
Herbstabend mit näherkommenden Scheinwerfern.
»Das dürfte er sein«, verkündet Ned.
An der Haustür wird ein großer, hagerer Mann in Jeans von einer zögerlichen Kristin Jonsdottir begrüßt. Auch der Physiker ist da, ich kann ihm noch immer nicht ins Gesicht sehen.
»Namen spielen keine Rolle«, sagt Ned rasch. »Es ist einfacher so.«
Der Anästhesist sieht aus, als hätte er gerade das Studium abgeschlossen. Sein langes, helles Haar ist in der Mitte gescheitelt und fällt bis auf die Schultern, was seine schmalen, gemeißelten Züge noch betont. Seine Haut ist von einer dumpfen Blässe, typisch für Menschen, die bei Neon- oder Halogenlicht arbeiten. Er hat etwas Verletzliches, das mir vertraut vorkommt, obwohl ich es nicht genau benennen kann. Er sagt ein vages Hallo in die Runde. Die Atmosphäre ist gedrückt. Vor allem Kristin sieht aus, als wäre sie lieber am Meeresboden bei ihren gefrorenen Molekülen. Fast bekomme ich Mitleid mit ihr. Oben im Haus schlägt eine Uhr sechs.
»Wir lassen euch jetzt in Ruhe«, sagt Frazer Melville. »Ruft einfach, wenn ihr uns braucht.«
»Sie sind für die Patientin verantwortlich?«, erkundigt sich der Anästhesist, und ich nicke. »Dann brauche ich Sie dabei. Sobald wir die Behandlung abgeschlossen haben, muss ich los. Und, nehmen |275| Sie’s nicht persönlich, ich möchte ganz schnell vergessen, dass ich überhaupt hier war.«
»Ist der Typ vertrauenswürdig?«, frage ich Ned, als Kristin diskret nach oben verschwunden ist und Frazer Melville den Arzt ins Wohnzimmer führt.
»Ja, aber deswegen muss ihm die Situation noch lange nicht gefallen.«
»Wie haben Sie ihn überhaupt dazu bekommen?«
Ned wirkt verlegen. »Es gelten neue Prioritäten. Nicht alle Entscheidungen, die wir treffen, sind moralisch über jeden Zweifel erhaben.«
»Man merkt, dass Sie viel mit Politikern zu tun hatten. Wollen Sie vielleicht noch hinzufügen, dass der Zweck die Mittel heiligt?« Er sagt nichts. Ich seufze. »Ich brauche die Bilder aller vier Bohrinseln, damit wir sie sofort zuordnen können. Hoffentlich entdeckt sie ein Detail, das uns den entscheidenden Hinweis liefert. Wir brauchen eine gute Auflösung. Wenn möglich, auch Bilder aus anderen Perspektiven.«
»In Ordnung. Dann hole ich jetzt die Prinzessin.«
Als Bethany mit nackten Füßen, frischen Verbänden und ungekämmtem Haar nach unten kommt, ist sie ganz scharf auf Action. Ungeachtet meiner Proteste nimmt sie die Griffe meines Rollstuhls und schiebt mich mit Höchstgeschwindigkeit durch den Flur ins Wohnzimmer, wo sie den Arzt mit den Worten »Hi, Doc« und einem breiten, zahnspangenbewehrten Grinsen begrüßt. Er bedenkt sie mit einem finsteren Blick und sieht zu, wie sie sich auf dem Sofa niederlässt, vor sich hin summt und an den freiliegenden Krusten auf ihren Armen zupft.
Ich habe mich oft gefragt, was Anästhesisten zu einem Fachgebiet hinzieht, bei dem man die haarfeine Grenze zwischen bewusstem und unbewusstem Ich, zwischen Leben und Tod so genau beurteilen muss. Die hohe Selbstmordrate unter ihnen wird gemeinhin mit der Verfügbarkeit der Mittel erklärt, doch etwas an diesem jungen Mann lässt vermuten, dass mehr dahintersteckt. |276| Bethany ist bereit und willig, obwohl ihr gleich ein Wildfremder bei einer medizinischen Behandlung, deren Wirksamkeit nie wirklich erklärt werden konnte, Stromstöße ins Gehirn jagen wird. Das Vertrauen, das unvermeidliche massive Ungleichgewicht der Macht und das Fehlen jeglicher Nähe zwischen Bethany und dem anonymen Arzt – all das ergibt eine heikle emotionale Situation. Er rückt das kleine Gerät auf dem Couchtisch zurecht und führt einen Gummischlauch
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