Endzeit
ihre überwältigenden Wunder geöffnet. Ich kann es gar nicht abwarten, die Zukunft zu erleben. Na los. Verfluchte Scheiße, macht schon. Das ist mein letzter Wunsch, okay?«
Ehe ich mich’s versehe, hat sie das Gummi in den Mund geschoben, zitternd nach der Gesichtsmaske gegriffen, sie über Mund und Nase gestülpt und sich selbst eine Dosis verabreicht. »Na los«, murmelt sie benommen. Ihre Augen fallen zu. »Sonst werde ich Ihnen nie verzeihen.«
Du wirst es vielleicht gar nicht mehr können, denke ich. Ich könnte kotzen vor Angst. Ned Rappaport, Frazer Melville und Kristin Jonsdottir starren mich entsetzt an. Draußen nähert sich ein Auto.
»Das dürfte Harish sein. Ich gehe hin«, murmelt Kristin und schlüpft lautlos hinaus.
Man hat mir immer gesagt, ich würde zu viel nachdenken, analysieren, reflektieren, nach verborgenen Bedeutungen suchen, wo vielleicht gar keine sind. Wenn sehr viel auf dem Spiel steht, so viel, dass es einen schier zu überwältigen droht, darf man keine Zeit mit Spekulationen verschwenden. Manchmal muss man einfach den Sprung wagen.
Den großen, unwissenden Sprung ins Dunkle. An einen Ort, an dem nichts mehr ist wie zuvor.
Es könnte die schlimmste Entscheidung meines Lebens sein, doch ich treffe sie in einer Sekunde. Rasch wische ich Bethanys Stirn mit dem Schwamm ab, schalte die Zeituhr ein, setze die Elektroden an ihre Schläfen und drücke den Schalter. Ich halte die Luft an, während die Uhr tickt und der Strom ihr Gehirn überflutet.
Kalte, nüchterne Gedanken machen sich breit.
Ich darf nicht vor Angst ohnmächtig werden.
Wenn sie stirbt, wird man es als Mord bezeichnen.
Zu Recht.
|282| Ich halte die Elektroden an ihren Schläfen fest und sehe den verrinnenden Sekunden zu.
Im Raum herrscht unheimliche Stille. Bethanys Gesicht ist reglos, sie könnte tot sein. Die längsten zehn Sekunden meines Lebens vergehen, doch es geschieht nichts Schlimmes. Dann zwanzig. Fünfundzwanzig. Sechsundzwanzig. Siebenundzwanzig. Noch immer keine Bewegung, kein Anzeichen, dass der Stromstoß wirkt. Wie soll ich das deuten? Worauf warte ich? Nicht einmal das ist mir klar. Ich werde nicht atmen, bis es vorbei ist. Achtundzwanzig. Ned schluckt hörbar.
Cuando te tengo a ti, vida, cuanto te quiero.
Frazer Melville legt mir die Hand auf die Schulter. Ich schüttle sie ab, weil ich mich selbst noch mehr verabscheue als ihn.
Dann, bei neunundzwanzig Sekunden, die Katastrophe.
Ohne Vorwarnung schießt Bethanys Kopf in einer heftigen epileptischen Zuckung in die Höhe, ihre Arme und Beine zucken ebenfalls. Die Elektroden fallen zu Boden, der Mundschutz fliegt durch die Luft, doch der irre Breakdance geht weiter, ist nicht zu bremsen. Frazer Melville ruft Ned zu, er solle ihre Beine festhalten, während er selbst mit den rudernden Armen kämpft. Ohne lange zu überlegen, stemme ich mich aus dem Rollstuhl und werfe mich mit ungeheurer Anstrengung – das Adrenalin peitscht durch meine Adern – auf Bethany und halte ihren zuckenden Körper mit meinem Gewicht fest. Ihr Kopf hat sich aus der Halterung gelöst, trifft mich am Mund, und ich schmecke Blut. Sie zuckt noch immer. Trotz meines Gewichts ist sie halb vom Sofa gerutscht. Noch mehr Blut. Ich weiß nicht, ob es ihres oder meines ist. Ich denke:
Sie hat sich die Zunge abgebissen.
Dann ist sie plötzlich still.
Ned tritt zurück, und Frazer Melville setzt mich in den Rollstuhl. Ich spüre seine enorme Kraft. Es ist, als würde er eine Stoffpuppe aufheben.
Bethany liegt völlig reglos da, blutverschmiert, die Gliedmaßen verrenkt. Eben noch hat sich ihre Brust gehoben und gesenkt, jetzt bewegt sich nichts mehr.
|283| Ich verliere den Boden unter den Füßen.
Kristin steht mit offenem Mund in der Tür. Harish Modak ist bei ihr.
In Wirklichkeit sieht der alte Mann zerbrechlicher aus als auf den Fotos: eine kleine, eingeschrumpfte Gestalt mit eisengrauem Haar und den dunklen, verschleierten Augen eines Raubvogels. Augen, die durch den Raum huschen und sich weiten, als sie das Schlachtfeld registrieren.
Alles ist rot verschmiert. Bethanys Körper ist völlig verdreht, als hätte sie versucht, ihr Innerstes nach außen zu kehren. Blut tropft von ihren Lippen.
Sie atmet nicht mehr.
Harish Modaks Beine geben unter ihm nach, und er stützt sich am Türrahmen ab. Kristin nimmt seinen Arm und führt ihn zu einem Stuhl am Fenster. Er ist grau im Gesicht.
»Ich mache Mund-zu-Mund-Beatmung, du Herzdruckmassage«, weise ich Frazer Melville
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