Endzeit
gefangen, konzentriere ich mich ganz auf die Leinwand. Bis zu diesem Augenblick habe ich nie einen Gedanken auf Bohrinseln verschwendet.
»Sie sehen irgendwie heroisch aus.«
»Das sind sie auch«, erwiderte Frazer Melville, als wäre meine Bemerkung die richtige Antwort auf eine geheime, unausgesprochene Frage. »So viel menschlicher Ehrgeiz und Erfindungsreichtum. So viel Streben.« Es klingt fast wie die Unterhaltungen, die wir geführt haben, als wir uns noch unterhielten. »Bis wir weitere Informationen von Bethany erhalten, müssen wir davon ausgehen, dass es sich um eine von diesen handelt. Nun, sollte der unterseeische Riss, den Bethany gesehen hat …«
Er rückt näher an mich heran. Ich lehne mich zur Seite. Aber er ist immer noch zu nah. Ich spüre die Wärme seines Körpers.
|267| »Ist es das, was sie gezeichnet hat?«, will ich wissen. Ich kann mich kaum konzentrieren, versuche aber um meines Stolzes willen normal zu klingen. »Einen Riss?«
»Eine Fissur und einen Flammpunkt«, sagt Kristin Jonsdottir. »Um das gefrorene Methan aus dem Meeresboden zu lösen, muss man eine horizontale Bohrung darunter durchführen und so eine Druckveränderung erreichen. Wenn die Berechnungen allerdings falsch waren, wird sich der Druck immer weiter erhöhen. Wenn er einen kritischen Punkt erreicht, besteht die Gefahr, dass ungeheure Mengen des gefrorenen Methans – weit mehr, als man jemals beabsichtigt hat – freigesetzt werden.«
Während sie spricht, versucht Frazer Melville, Augenkontakt zu mir aufzunehmen, doch ich widerstehe der Versuchung. Ich frage mich, ob Kristin ihm von meiner Feindseligkeit erzählt hat oder ob Dinge wie der Anruf bei Harish Modak wichtiger waren.
Ned sagt: »Das Sediment wird destabilisiert, was eine unterseeische Lawine auslöst. Diese kann zu einer Freisetzung der gesamten Methanreserve führen, die unter dem erschlossenen Hydratfeld begraben ist. Dadurch werden riesige Mengen von Sediment über und neben dem Methan gelockert. Das führt zu weiteren Erdrutschen im gesamten Gebiet – bei diesen Bohrinseln sprechen wir jeweils von Tausenden Quadratkilometern. Ein ungeheurer Tsunami ist die Folge. Dieser wird vermutlich weitere Sedimentschichten destabilisieren und zusätzliche massive Erdrutsche auslösen.«
Aufgrund ihrer wissenschaftlichen Kenntnisse können die drei sich zweifellos das gesamte Ausmaß einer solchen Katastrophe ausmalen. Ich hingegen kann das nicht. Stattdessen stelle ich mir ein Ölgemälde à la Turner vor, eine riesige, majestätische Leinwand, auf der ein tosendes Miasma aus Wasser, Wellen und Wolken dargestellt ist. Ein schwaches, perlmuttfarbenes Licht, das rosa wird, dann orange und blutrot, während die Gischt sprudelt und sich in ein Flammenmeer verwandelt; im Vordergrund stürzt |268| das Streichholzgerüst der Bohrinsel unter der Wucht der tobenden Elemente in sich zusammen.
Viel bringt es nicht, nur einen gewissen ästhetischen Trost.
Die Informationen, die ich hier erhalte, kommen nicht richtig bei mir an.
»Das wiederum löst höchstwahrscheinlich einen weiteren Kreislauf aus Erdrutschen und Tsunamis aus«, erklärt Ned, »weil weitere Teile des Hydratfeldes gelockert werden und mehr Methan freigesetzt wird. Methan ist als Treibhausgas zwanzigmal wirksamer als CO 2 . Falls sich dieser Mechanismus ausbreitet und eskaliert, bekommen wir es mit einer globalen Erwärmung zu tun, die unsere schlimmsten Albträume übertrifft. Überall auf der Erde wird es abrupt heißer. Man hat das als Hypothese vom ›Clathrat-Gewehr‹ bezeichnet. Als es noch eine Hypothese war.«
Der Physiker schaut mich eindringlich an, als wollte er prüfen, wie viel davon zu mir durchdringt. Viel ist es nicht. »Als dies das letzte Mal geschah, dauerte es, geologisch betrachtet, quasie nur den Bruchteil einer Sekunde.«
Alle Augen sind auf mich gerichtet.
»Daher müssen wir alles versuchen, um die Menschen zu warnen«, sagt Kristin Jonsdottir. »An den Küsten wird es gewaltige Überschwemmungen geben. Und zwar nicht nur punktuell. Durch den Domino-Effekt wird innerhalb kürzester Zeit der gesamte Planet betroffen sein.« Sie schließt die Augen. »Die Skandinavier nennen es Ragnarök.«
»Chaos«, sagt Frazer Melville. »Eine Art Hölle.« Mein Herz schrumpft zu einer winzigen, harten Murmel. Was will er, meine Zustimmung? Ned klickt auf das nächste Bild. Man sieht die Erde, die langsam rotiert und sich mit jeder Drehung verändert.
»Beim letzten Mal schmolzen
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