Endzeit
Reflex. Leider der falsche. »Ich rufe Sie zurück.« Fieberhaft überlege ich, wie ich die Sache in Ordnung bringen kann, und gebe Ned ein Zeichen, dass man mich auf dem falschen Fuß erwischt hat. Er schüttelt den Kopf. Zu spät. Ich habe es versaut.
»Das ist nicht nötig«, sagt Kavanagh in neutralem Ton. »Wenn Sie zu Hause sind, können Sie einfach die Tür aufmachen. Ich stehe draußen. Ich habe geklingelt. Leider ohne Erfolg. Ehrlich gesagt, bin ich überrascht zu hören, dass Sie da drin sind. Hier draußen ist nämlich keine Spur von Ihrem Auto zu sehen.« Ich sage nichts. »Haben Sie schon einmal vom Tatbestand der Justizbehinderung gehört, Miss Fox? Eine gefährliche Minderjährige wurde entführt. Bethany Krall ist eine bekannte Mörderin. Das ist eine ziemlich üble Sache. Ich weiß ja nicht, wie behindertengerecht das Frauengefängnis Holloway ist. Aber Sie können davon ausgehen, dass dort, ähm,
Kunsttherapie
angeboten wird. Wenn Sie nun also …«
Weiter kommt er nicht, weil ich mein Telefon ausgeschaltet habe.
»Okay, heute Abend werden Sie jedenfalls nicht mehr nach Hadport zurückfahren«, konstatiert Ned. »Sie sind soeben unter die Kriminellen gegangen.«
Die drei starren mich an. Aus dem Nebenzimmer dringt die Titelmelodie von
Friends.
Von Natur aus bin ich eine unverbesserliche Pessimistin, habe mir im Laufe der Jahre aber einen gewissen Optimismus antrainiert und ihn verinnerlicht, bis das erzwungene |272| positive Denken selbstverständlich wurde. Doch daher rührt die bizarre Erleichterung, die mich nach diesem Telefonat überkommt, nicht. Sie ist nicht künstlich. Trotz des neuerlichen Unglücks, das ich hier erlebe, ist sie echt. Und ich muss auf sie vertrauen. Ich muss auf sie vertrauen, weil ich vielleicht die ganze Zeit geahnt habe, dass es dazu kommen würde. In einem verborgenen Winkel meiner selbst habe ich gewusst, dass ich hier landen würde, habe es von dem Tag an gewusst, an dem ich in Oxsmith angefangen und Bethany Krall kennengelernt habe, von dem Abend an, an dem ein gewisser Physiker und ich aus dem Armada-Hotel geflohen sind, um in einem indischen Restaurant Papadam zu essen, von dem Tag an, an dem er das Licht in Bethanys kurzlebigem Globus einschaltete und den Planeten zum Leuchten brachte, von dem Tag an, als Christus der Erlöser stürzte und Istanbul zu Staub gerüttelt wurde, von dem Moment an, in dem Kristin Jonsdottir mit ihrer roten Wollmütze und dem brennenden Eis in der Hand auf meinem Computerbildschirm auftauchte.
»Vorhin waren Sie sich nicht sicher, inwieweit Sie sich beteiligen wollen«, sagt Ned. »Angesichts Ihrer neuen Position als polizeilich Gesuchte …«
Ich sehe ihn an und dann Frazer Melville und seine Geliebte. Ich versuche, an die Welt zu denken. An ihre Unschuld. An die Kinder, die sterben werden. Aber ich kann nur noch an mich denken. An meinen Schmerz, meine Eifersucht, den doppelten Verlust meiner Weiblichkeit. Dass ich keine Zukunft habe.
Für all das bin ich nicht bereit. Ich werde niemals bereit sein.
Wenn ich ganz fest die Augen schließe, kann ich es ausblenden.
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»Problem gelöst«, verkündet Bethany, als sie barfuß hereinmarschiert kommt, in der Hand einen roten Plastikeimer. »Müsli, Milch, ein Apfel, ein Omelett und fünfzehn Haribo, danke vielmals, Ned. Alles ausgekotzt in drei Gängen. Jetzt ist mein Magen leer und bereit für die Narkose. Roller hier hat eine Sorge weniger. Mal gucken?«
Sie lässt uns keine Wahl. Nachdem Ned und ich unsere Pflicht getan haben, sehen wir uns an und müssen lächeln.
Bethanys unbedingte Hingabe an ihr Suchtmittel ist einfach bewundernswert.
Hätte man mir vor einigen Wochen gesagt, dass ich mich in einem knarzenden Bauernhaus wiederfinden würde, wo ich zusammen mit einem australischen Klimatologen medizinisches Zubehör auspacke und mich anschicke, an einem muttermordenden Teenager, den entführt zu haben man mich verdächtigt, eine Elektroschockbehandlung vorzunehmen, hätte ich es wohl kaum geglaubt. Doch hier bin ich nun mit Ned Rappaport in einem kleinen, muffigen Wohnzimmer, umgeben von Kartons und Luftpolsterfolie. Bevor es dunkel wurde, habe ich einen Blick auf den Apfelbaum vor dem Fenster geworfen. Seine Früchte liegen auf der verwilderten Wiese verstreut, wo Gräser und die vertrockneten Münzen des Silberblatts im Wind rascheln. Ich musste an den Garten meines Vaters denken und dann an meinen Vater und vermisste ihn so furchtbar, dass ich um ein Haar
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