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Endzeit

Endzeit

Titel: Endzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Jensen
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Wir müssen nach vorne blicken.«
    Ich rühre mich nicht.
    Ich sehne mich danach, noch einmal geküsst, von ihm berührt zu werden. Aber er tut es nicht.
    Stattdessen bleibt er noch ein bisschen sitzen, steht dann mühsam auf und verlässt das Zimmer. Was empfindet er? Mitleid, Schuldgefühle, Reue?
    |308| Kurz darauf höre ich seine Schritte auf der Treppe, dann telefoniert er. Er muss sie sehr vermissen, denn es ist ein langes Gespräch.
     
    Anders als untreue Liebhaber bleiben einem die Toten ewig treu. Könnte ich nur ein Warnschild aufstellen, damit Alex sich nicht in meine Träume stiehlt. Wenn er es wieder getan hat, erwache ich widerwillig, weil ich weiß, dass die Aussicht auf den neuen Tag einen Optimismus erfordert, den ich nur mit Mühe aufbringen kann. Noch eine Stunde Schlaf, und die Welt sähe vielleicht schon anders aus, aber der Traum – ein beunruhigender Traum, in dem Alex mein Haar zu seltsamen Zöpfen dreht – ist noch zu frisch. Und die Wirklichkeit zu aufdringlich.
    »Kommen Sie, Roller. Ich zeige Ihnen den See.« Sie wedelt mit einem weißen Handtuch vor meinem Gesicht. Durch die Jalousien fallen schon Streifen von Licht. Ich tippe auf acht Uhr. »Kommen Sie! Na los! An die Luft!«
    Der Tag erstreckt sich vor mir: ein Tag voller Stress, an dem ich auf das Klingeln des Telefons warten und dem Physiker aus dem Weg gehen werde.
    »Lass mir fünf Minuten Zeit«, sage ich und ziehe mir ein T-Shirt über.
    Rollstühle und Schlamm vertragen sich nicht, aber es gibt einen Gehweg aus Beton, der mich nahe ans schilfbewachsene Ufer führt. Bethany ist vorausgelaufen und zieht sich schon aus.
    »Was machst du da? Bethany, du wirst dich erkälten!«
    »Es ist super!«, brüllt sie, knüllt ihr Handtuch zusammen und wirft es mir zu.
    Plötzlich kann ich ihren Drang verstehen. Mir steigt das Blut zu Kopf, am liebsten würde ich mich ebenfalls ausziehen und schwimmen. Die Sonne geht in einem zarten Mandarinenton auf, und die Luft ist so warm wie im August. Es weht ein leichter Wind. Möwen und Stare kreisen über uns und staksen über den Mulch. Hätte man vor ein paar Jahren gesagt, man wolle im Oktober |309| in Großbritannien draußen schwimmen, wäre das ebenso absurd gewesen wie eine Seepferdchenkolonie in der Themse oder Papaya-Plantagen in Kent. Jetzt versüßt uns der warme Herbst den Abstieg in den neunten Kreis der Hölle.
    Bethany hat ihre Kleider auf das schmale, abfallende Ufer geworfen. Sie ist ein jämmerlicher Haufen Haut und Knochen: magerer Brustkorb, praktisch keine Brüste, nach innen gewölbter Bauch, magere Oberschenkel, übersät mit Schnitten und Brandnarben von Zigaretten, dazwischen ein Büschel dunkler Haare. Sie hat die Verbände entfernt, aber die Wunden an Händen und Armen sind noch offen.
    »Sei vorsichtig!«, rufe ich, doch sie hat sich schon in den See gestürzt und planscht selbstvergessen im glitzernden Wasser. Falls die Kälte sie wie mit Nadeln sticht, zeigt sie es nicht.
    »Kommen Sie rein!«, schreit sie in Ekstase. »Das ist absolut irre!«
    Mein erster, von der Vernunft diktierter Impuls ist ein Nein. Es gibt keine Krankenpfleger, die Bethany überwältigen könnten, falls sie mich angreift, und meinen Rollstuhl zu verlassen, erfordert mehr Selbstvertrauen, als ich besitze. Da ich aber ohnehin ein Territorium betreten habe, auf dem keine Regeln gelten, gerate ich in Versuchung. Ich habe mein tägliches Schwimmen vermisst. Meine Muskeln sehnen sich nach Bewegung, nach einer Art Bestrafung und dem darauf folgenden Serotonin-Rausch. Im Wasser bin ich mobiler und freier als irgendwo sonst. Und es ist nicht weit bis zum Wasser.
    Manchmal denke ich zu viel nach. Heute nicht. Ich stemme mich aus dem Stuhl hoch und ziehe mich einige Meter weit über den kühlen Schlamm bis zu der Lücke im Schilf, wo Bethany ins Wasser gegangen ist. Am Ufer ziehe ich meinen Rock aus und behalte nur T-Shirt und Slip an. Die festgetretene Erde ist kalt unter meinen Handflächen. Als der Hang steiler wird, lege ich mich seitlich hin und rolle hinunter. Es ist ein unerwartetes, seltsam sinnliches Gefühl. In diesem Moment verzeihe ich meinen |310| Beinen, dass sie nicht länger mit meinem Körper zusammenarbeiten. Es ist unwichtig. Wäre der Abhang länger, könnte ich ewig weiterrollen. Ich könnte bis an den Rand der Welt rollen. Das kalte Wasser trifft mich wie ein Schlag, aber ich nutze den Impuls und tauche in den kühlen Sog. Als ich ganz im Wasser bin, paddle ich ein Stückchen hinaus,

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