Endzeit
Entscheidung zu nutzen, und schlägt vor, auch auf Bethany zu trinken. »Eine Cola für dich? Oder Saft?«
Es ist wohl das erste Mal in ihrem Leben, dass jemand auf sie anstoßen möchte, aber sie schüttelt nur mürrisch den Kopf und dreht eine weitere Litschi zwischen den Fingern. Ihr Gesichtsausdruck beunruhigt mich. Sie führt etwas im Schilde.
»Wenn meine Frau hier wäre, würde sie uns an den verbreiteten Irrtum bezüglich des chinesischen Schriftzeichens für ›Krise‹ erinnern«, sagt Harish Modak und trinkt von seinem Whisky. Jetzt, da er die moralischen Entscheidungen hinter sich hat, scheint er neue Kraft zu schöpfen.
»Krise gleich Gefahr plus Gelegenheit«, sagt Frazer Melville.
»Genau das wollen Ihnen westliche Business-Gurus und Mentaltrainer gerne weismachen. Sie führen vor, wie man die Striche auflöst, und siehe da: Gefahr und Gelegenheit. Chinesen hingegen werden Ihnen sagen, dass es ein reiner Mythos ist.«
»Und die Moral von der Geschicht?«
»Eine Krise ist einfach nur eine Krise, nicht mehr und nicht weniger.«
|301| »Die Firma Traxorac hat ihren Stolz. Sie wird um ihr Image besorgt sein und ihr Gesicht wahren wollen«, denke ich laut. »Wir haben es mit den Emotionen einer Institution zu tun, mit Massenpsychologie. Massen sind schwer zu lenken und aufrührerisch, sie unterliegen Stimmungsschwankungen und machen Phasen in ihrem Denken durch, sie verfolgen fixe Ideen.«
»Niemand gesteht gern ein, dass er Mist gebaut hat«, sagt Ned. »Das gilt auch für Konzerne und Regierungen.«
»Unsere Aufgabe ist es, möglichst viele Menschen auf möglichst effiziente und überzeugende Weise zu warnen, ob Traxorac die Gefahr nun eingesteht oder nicht, ob uns die Behörden zuhören oder nicht«, sagt Kristin Jonsdottir. Wenn ich sie nicht hassen würde, hätte ich sie gern. Und ich hasse sie dafür, dass ich sie nicht gern haben kann. »Ich wette, wenn sie begreifen, werden sie es zuerst vertuschen wollen und dann nach einem Sündenbock suchen, statt die Sache in Angriff zu nehmen.«
»Sie hat recht«, sagt Ned und greift nach einem Notizblock. »Ich habe solche Institutionen von innen erlebt. Der erste Instinkt ist Leugnen, dann schalten sie ganz schnell um auf Vorwurf.« Er kritzelt etwas hin.
»Wenn sich ein horizontaler Riss gebildet hat und sich dort, wo sie gebohrt haben, das Sedimentpaket lockert, muss es irgendwo einen Beweis geben«, sagt Frazer Melville und nimmt einen Schluck Whisky.
»Ja, ein einziger Beweis würde schon reichen«, sagt Kristin. »Aber er müsste unwiderlegbar sein. Falls die Entwicklungen irgendwo sichtbar werden, dann in den jüngsten seismischen Aufzeichnungen der Firma. Wenn man sie mit älteren vergleicht und eine Diskrepanz feststellt, heißt das, es hat Bewegungen gegeben. Das wäre ein Beweis.«
»Harish«, sagt Ned schroff und schaut von seinen Notizen auf. »Auch da brauchen wir Ihren Einfluss.«
»Ich fühle mich, als wäre ich tausend Jahre alt.«
»Sobald wir die Aufzeichnungen haben, geben wir eine Pressekonferenz |302| und präsentieren die Fakten. Dann können die Leute selbst entscheiden. Das sind wir ihnen schuldig. Danach sollten wir ganz schnell einen sicheren Ort aufsuchen.«
»Wer ist wir?«, will Bethany wissen. Es wird still im Raum. »Scheiße, ich habe gefragt, wer ist
wir
?«
Sie versucht mühsam, aufzustehen. Aber es ist noch zu früh, sie ist zu schwach. Sie schwankt, droht umzukippen. »Jetzt hört mal gut zu, ihr Klugscheißer.« Sie umklammert die Sofalehne und richtet sich auf. Frazer Melville will ihr helfen, doch sie schüttelt ihn ab. Unsere ganze Aufmerksamkeit ist auf sie gerichtet. »Ich habe gesehen, dass es passiert. Also kommt bloß nicht auf die Idee, mich zu diesen Wichsern nach Oxsmith zu bringen. Oder nach Kiddup Manor. Ihr wisst, was dort passieren wird.« Keiner sagt etwas. Ned rutscht unbehaglich hin und her. »Und?«, fragt sie anklagend. »Professor M.? Ned? Frazer? Kristin? Roller? Wollt ihr mich fallen lassen, nachdem ihr bekommen habt, was ihr wolltet?« Ihre Augen verdrehen sich leicht. Frazer Melville bemerkte es und zieht sie energisch aufs Sofa. »Wollt ihr mich im Klo runterspülen, ihr Arschlöcher? Ist das euer Plan?«
»Sieht aus, als wären wir ein Team«, setzt Ned zögernd an. Aber er kommt nicht weit. Er ist eher Pragmatiker als Diplomat und denkt das Naheliegende. Sie ist eine tickende Zeitbombe. Eine Gefahr für sich und andere. Ein verrücktes Mädchen. Ein Klotz am Bein. Sie wird von
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